Abschiedstournee
Elton John wollte doch nur geliebt werden – eine Würdigung

Elton John Er gehört zu den erfolgreichsten Songschreibern der Popgeschichte. Jetzt ist der 72-jährige Engländer auf grosser Abschiedstournee und sein Filmbiopic «Rocket Man» kommt in die Kinos. Eine Würdigung.

Stefan Künzli
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KEYSTONE

Schuld sind die 80er! Das Jahrzehnt des Plastik-Pop. Die Jahre, in denen die Geschmacksverirrungen kultiviert wurden. Die Jahre, in denen die Musikindustrie das Zepter übernommen hatte und die Bands auf Kommerz und Radiotauglichkeit getrimmt wurden: 3-Minuten-Songs und Instant-Refrains lautete der Befehl. Wer nicht spurt, fliegt! Nacheinander lösten sich die führenden Bands wie Deep Purple und Led Zeppelin auf oder unterwarfen sich wie Yes, Genesis und Queen dem Diktat der Pop-Wächter.

Elton John war von diesem Gezeitenwechsel, dieser immer noch unterschätzten Zäsur in der Geschichte des Rock und Pop, ebenfalls betroffen. Zuvor, zwischen 1972 und 75 veröffentlichte er neun Alben, von denen sechs in den USA Platz 1 erreichten. Elton John war auf dem Höhepunkt seiner Popularität und Schaffenskraft. Doch Ende der 70er-Jahre, unterstützt von Alkohol und Drogen, stürzte er ab und schlitterte in eine massive persönliche und musikalische Krise. Der Erfolg verblasste und er trennte sich zwischenzeitlich sogar von seinem Texter Bernie Taupin, mit dem er seit 1967 zusammenarbeitete.

So kennt man den Superstar: Elton John am Klavier.
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Elton John an der Premiere des Films "Rocket Man".
Zu seinen Markenzeichen gehören Brillen und extravagante Bühnenoutfits.
Elton John.

So kennt man den Superstar: Elton John am Klavier.

Rolf Jenni

Vom rockenden Paradiesvogel zum Schnulzenkönig

Elton John beugte sich dem kommerziellen Druck und folgte dem Gebot der Stunde. Der begnadete Songschreiber hatte ja immer ein Faible für grosse Balladen: «Your Song», mit dem er den Durchbruch schaffte, «Rocket Man», «Daniel», «Goodbye Yellow Brick Road», «Candle In The Wind» und «Don’t Let the Sun Go Down on Me» sind Perlen, kleine Meisterwerke. Diese Meilensteine der Popgeschichte unterscheiden sich aber deutlich von den schmierig arrangierten und instrumentierten Balladen der 80er-Jahre.

Songs wie «Little Jeannie», «Blue Eyes», «I Guess That’s Why They Call It The Blues» und «Nikita» erreichten zwar wieder höchste Charts-Ränge, sie liessen die einstige harmonische und formale Raffinesse von Elton John aber vermissen. Und vor allem: Der extrovertierte rockende Paradiesvogel mit dem Brillen-Spleen verwandelte sich in den Kuschelkater und Schnulzenkönig mit Songs von triefender Sülze. Elton John wurde zum zuverlässigen Lieferanten von glatt poliertem, tranigem Pop für die Massen. Songs mit Hang zu Überproduktion, Pomp, Streicherpaste und Plüschexzess. Achtung Kitschalarm!

«Bei mir ist alles Sucht», sagte er einmal. Elton John brauchte den Erfolg. Es war eine Sucht wie Alkohol und Drogen. Er wollte geliebt werden. Das wird auch im Film «Rocket Man» von Dexter Fletcher deutlich, der jetzt in die Kinos kommt (siehe Box).

Jetzt mache ich nur noch die Musik, die ich selber liebe. 

(Quelle: Elton John)

Der 1947 als Reginald Kenneth Dwight in der Nähe von London geborene Musiker war ein ungeliebtes Kind. Klein Reggie litt vor allem unter dem Desinteresse seines Vaters. Gleichzeitig war dies der Antrieb für seine Karriere. Er wollte es allen zeigen. Der dickliche, stark kurzsichtige, homosexuelle Sänger und Pianist mit Haarausfall war nicht der Prototyp des Popstars. Der überdimensionierte Glitzer, das bizarre Outfit, die Arbeitswut, Alkohol und Drogen waren eine Flucht vor sich selbst. Er wollte jemand anders sein. Deshalb legte er seinen Namen Reginald Kenneth Dwight ab. Deshalb wurde er Elton John, der von allen geliebte Popstar.

Er erklärte es selbst: «Die Phase, in der Glitter und Maskeraden mein Markenzeichen wurden, hatte einen sehr persönlichen, psychologischen Hintergrund. Als Kind war ich unansehnlich und fett. Egal, was ich anhatte, es sah furchtbar aus. Die 70er-Jahre waren für mich wie eine Rebellion gegen die deprimierenden Erfahrungen meiner Kindheit. Das war nicht nur ein Stilmittel, um mit Leuten wie Bowie und Bolan konkurrieren zu können. So habe ich alles etwas doller getrieben. Als Popstar fand ich die unbegrenzten Möglichkeiten, meinem Alter Ego freien Lauf zu lassen.»

Schluss mit Glitzer und Glamour

Der Film beginnt aber mit der zweiten Zäsur, dem Schicksalsjahr 1988. Elton John sitzt im orangefarbenen Vogelkostüm in einer Selbsthilfegruppe von Suchtkranken und blickt auf sein bisheriges Leben zurück. Er will sich radikal ändern. Schluss mit den Drogen, Schluss mit der Maskerade. Er lässt sich von seiner Frau Renate scheiden und bekennt sich offen zur Homosexualität. Er lernt John Furnish kennen, den er später heiratet. Mit ihm und dem gemeinsamen Sohn Zachary findet er jenes Familienglück, das ihm in seiner Kindheit fehlte.

Das veränderte auch seine Karriere fundamental. Die Prioritäten verschoben sich und er musste niemandem mehr etwas beweisen. «Jetzt mache ich nur noch die Musik, die ich selber liebe», verriet er in einem Interview. Seither schrieb er ganz bewusst keine Hits mehr. «Charts-Erfolg bedeutet mir nichts mehr», erklärte er weiter. Stattdessen wandte er sich dem Soundtrack seiner Jugend zu: Rock ’n’ Roll, Boogie- Woogie, Country, Gospel und Songs wie «Honky Cat», «Crocodile Rock», «Bennie & The Jets und «Saturday’s Alright For Fighting». Auch musikalisch hat Elton John wieder zu sich selbst gefunden. Bei all der Sülze hätten wir beinahe vergessen, dass Elton John vor allem ein herausragender Boogie-Pianist ist, der die New-Orleans-Piano-Tradition eines Professor Longhair in die Welt des Pop und Rock überführt hatte.

Der Elton John, den wir mögen

Mit weltweit über 250 Millionen verkauften Einheiten, unzähligen Welthits, sechs Grammys und einem Oscar gehört Elton John zu den erfolgreichsten lebenden Popstars. Hier wollen wir aber vor allem seine kreativste Phase von 1970 bis 1975 feiern. Allen voran das Album «Honky Château» (1972) mit der wohl besten Bandbesetzung. Dann das epochale Doppelalbum «Goodbye Yellow Brick Road» (1973), das den gesamten musikalischen Reichtum des Elton-John-Universums präsentiert. Oder «Captain Fantastic and the Brown Dirt Cowboy» (1975), das gerade deshalb als Meisterwerk und Höhepunkt seines musikalischen Schaffens gilt, weil es formal die Gesetze des kommerziellen Pop sprengte und trotzdem extrem erfolgreich war. Schliesslich erinnern wir an das unterschätzte «Rock of the Westies» aus demselben Jahr, das den späteren Schmusebarden ausschliesslich von seiner rockenden Seite zeigt. Es ist der Elton John, den wir mögen.

Live 29. Juni am Montreux Jazz Festival (ausverkauft).

«Rocket Man» stellt «Bohemian Rhapsody in den Schatten Der Film «Rocket Man» von Dexter Fletcher ist nicht nur die Geschichte des Popgenies Elton John, es ist auch die Geschichte des ungeliebten Reginald Dwight, der, von Selbsthass geplagt, in den Alkohol- und Drogensumpf gerät. Und es ist die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach Liebe und dem eigenen Ich. Dabei dienen die autobiografisch gefärbten Songs als perfekter Soundtrack für das Leben des Popstars. Der titelgebende Song «Rocket Man» etwa erzählt von einem Astronauten, dem vor lauter Einsamkeit die Sicherungen durchbrennen. Und «Goodbye Yellow Brick Road» markiert jene Zäsur, als der Popstar Abschied von der Glitzerwelt nimmt. Der Film mag da und dort etwas zu musicalhaft ausgefallen sein, Musicals waren aber auch stets ein Teil von Elton John. Herausragend ist die Leistung von Elton-Darsteller Taron Egerton als Sänger und Schauspieler. Regisseur Fletcher hat schon entscheidend zum Erfolg des Oscar-preigekrönten Films «Bohemian Rhapsody» über Freddie Mercury beigetragen. In «Rocket Man» setzt er noch eins drauf und stellt «Bohemian Rhapsody» locker in den Schatten. (sk) Rocket Man von Dexter Fletcher (USA 2019) mit Taron Egerton. In den Kinos ab 30. Mai.Rocketman Music From The Motion Picture (Universal).

«Rocket Man» stellt «Bohemian Rhapsody in den Schatten Der Film «Rocket Man» von Dexter Fletcher ist nicht nur die Geschichte des Popgenies Elton John, es ist auch die Geschichte des ungeliebten Reginald Dwight, der, von Selbsthass geplagt, in den Alkohol- und Drogensumpf gerät. Und es ist die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach Liebe und dem eigenen Ich. Dabei dienen die autobiografisch gefärbten Songs als perfekter Soundtrack für das Leben des Popstars. Der titelgebende Song «Rocket Man» etwa erzählt von einem Astronauten, dem vor lauter Einsamkeit die Sicherungen durchbrennen. Und «Goodbye Yellow Brick Road» markiert jene Zäsur, als der Popstar Abschied von der Glitzerwelt nimmt. Der Film mag da und dort etwas zu musicalhaft ausgefallen sein, Musicals waren aber auch stets ein Teil von Elton John. Herausragend ist die Leistung von Elton-Darsteller Taron Egerton als Sänger und Schauspieler. Regisseur Fletcher hat schon entscheidend zum Erfolg des Oscar-preigekrönten Films «Bohemian Rhapsody» über Freddie Mercury beigetragen. In «Rocket Man» setzt er noch eins drauf und stellt «Bohemian Rhapsody» locker in den Schatten. (sk) Rocket Man von Dexter Fletcher (USA 2019) mit Taron Egerton. In den Kinos ab 30. Mai.Rocketman Music From The Motion Picture (Universal).

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