Ein ewiger Pop-Pierrot wird 75. Bob Dylan eignet sich nicht für lange Reden. Also suchten wir mal bei anderen Stimmen, wie sie Dylan vermitteln.
Ein Meister hiess kurz Robert Zimmerman, dann Bob Dylan, lebenslang. Weshalb Dylan, sagte er nie genau. Konnte sich auch keiner vorstellen, was es hiess, lebenslang Bob Dylan zu sein. Ein Mann, der sich jedem Bild entzog. Alle möglichen Spiegel hielt man ihm vor, darin er nur unkenntlicher wurde. Ein Chamäleon, hiess es. Das freilich seine Eigenart weniger nach äusseren Gegebenheiten, sondern von innen nach aussen färbte.
Ob darunter wirklich auch viel Wandel stattfand, bleibt ungewiss.
In den frühen Siebzigerjahren lobte Dylan mal jemanden, was er selten tat: den unbekann-ten, zypriotisch-kanadischen Halb-Swing-halb-Blues-Tin-Pan-Alley-Musiker Leon Redbone. Dylanfreaks rannten in die Plattenläden, betroffen, wie weit Redbone auseinanderlag. Vierzig Jahre später klang Dylan nach Redbone: auf «Modern Times», womit er eine junge, ganz neue Generation erschloss.
Zeichnet man also ein Bild von Bob, kann man mit Leichtigkeit in Spiegelfallen treten, worunter er eher verschwindet, als zum Vorschein kommt. Zwei Fallen sind fast unausweichlich: Exegese und Mnemosyne – Deutung und Erinnerung. Das erste befördert Geschwätz, das zweite Sentimentalität. Mit beidem konfrontiert, reagiert Dylan meist konsterniert-blasiert; es endet konfus, bestenfalls in Slapstick.
Man führe sich wieder mal die Videos seiner Pressekonferenzen zu Gemüte! Aus der Zeit der Schwarz-Weiss-Kameras, als der spindeldürre hypernervöse Pop-Pierrot sich gelegentlich noch dazu überschnorren liess. Nach jeder Schublade, die einer aufzog, um ihn reinzustopfen – «Protestsänger», «Folkrocker», «Troubadour des Beat» – schluckte Dylan tiefer den Rauch aus seiner Zigarette.
... sind es seit gestern, da Dylans neues Werk erschienen ist, «Fallen Angels». Wieder mit Sinatra-Evergreens, fast zur Gänze. «Schwamm drüber», hatte die FAZ gemeint beim letzten Sinatra-Sample «Shadows in the Night». Dylan foutierte sich drum. Und kriegt jetzt von Fräulein FAZ Rottenmeier halt nochmals auf die Löffel: «Ein wehmütiges uraltes Krokodil darf die Bescherung mit den Seelenbröseln seiner Tabakkrümelstimme bestreuseln.»
Heute, da er bald 75 ist, lockt die zweite Falle umso mehr, vor allem bei ramponierten Zeitgenossen: Dylan für sich privat zu inthronisieren anstelle von Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung. Ach, wo war er denn nicht dabei? Immer präsent im Kassettengerät, auf Achse zwischen überall und nirgendwo. «Bobby will be back», sagte Joan Baez jeweils vor der Pause im gemeinsamen Wanderzirkus «Rolling Thunder Revue». Und tatsächlich: In jedem Jahrzehnt, wenn das Popbusiness eine weitere flüchtige Modeseite aufschlug, kam Bobby zurück – bis heute.
Mochte er uns zeitweise verwirren, namentlich als christlicher Chorknabe, so verband sich doch jede Zeit wieder mit seinen Liedern, Herz und Schmerz stets altvertraut mit neuem Text. Seit mittlerweile 55 verfluchten Jahren! Damals hätte niemand geglaubt, dass jener «blue-eyed Son» mit Mundharmonika und Pfadilager-Klampfe, jung schon mit einer ganzen «Series of Dreams» unterwegs, kühner als wir alle, spät damit auch noch besser altert.
Hier lassen wir beide weg – den Hohepriester Dylan und den Erinnerungs-Schatzmeister. «I don’t believe in Zimmerman», sang schliesslich John Lennon bereits 1970 («God»). Ob seither Tolles geschah, danach fragt Dylan – typisch selbstdialogisch, typisch lakonisch – so: «Was ging vor in deiner Show? Jemanden verpasst? Zerbrach die Schallplatte, oder sprang die Nadel weiter?» («What was it you wanted»).
Hören wir uns einfach mal bei anderen Stimmen um! Egal in welchem Stil oder Genre. Dort, wo sich die poetische Dichte von Dylan-Songs oft deutlicher zeigt als bei ihm selbst. Auch wenn er in Gnadenmomenten auch als Sänger eine Wirkung erzielt, die geschulten Begabungen nie gelingt. Nicht zu reden von den Heerscharen mittelmässiger Brummbären und flötender Gänse, die sich aus einem Grund beim Meister bedienen: Im Meer vertonter Einfallslosigkeit können sie immerhin darauf bauen, sich mit seinen «Lyrics» nicht zu blamieren.
Zwei Tage und zwei Nächte schwebten wir durch die Klangclouds von Youtube, Vevo und eigener CD-Sammlung. Drifteten über alle Grenzen, Stilmuster und Sprachen. Es fand sich Material in verblüffender Menge. Trotzdem kann die Ausbeute erschöpfend nicht sein, die wir hier folgend – in unangemessener Kürze – präsentieren.
Bitteres Nachsingen bei den Folk-Onkeln. Sie nahmen ihn rasch auf in der Mitte, gönnerhaft: Der Novize war so jung zwischen ihnen, den Ordensvätern des Protestsongs im Landarbeiter-Look. Umso tiefer die Kränkung, als der ungewaschene Vagabund sich bald entwand. Wie ein Pastor tadelte Pete Seeger 1965 Dylans Streich, am Newport-Festival eine E-Gitarre einzustöpseln und mit Rock los zu krachen: «Man verstand kein Wort.» Spät nahm Seeger Dylans
«Forever young» auf: ein Tattergreis, weiter aber unbeugsam im Engagement für den guten Zweck.
Erschütternd auch Peter, Paul und Mary, das perfekt harmonische Trio: Von Alter und Krankheit verwüstet, vor allem die engelsblonde Mary, mussten sie erleben, wie die Zeit ihre Kunst furchtbar schnell in die Ecke stellte. «Forever young» blieb nur einer: der fragilste, der 75-jährige Autor ihrer frühen Hits.
Joan Baez hingegen blickt mit ironischer Verwunderung zurück, damals Muse, Madonna und Flintenweib Dylans. In einem der wenigen guten Lieder aus eigener Feder («Diamonds and Rust») sagt sie, wie lausig Dylan ihre Texte fand. Und lacht: «Ich habe beides schon abbezahlt.»
Reggae ändert die Augenfarbe. Wenn man eine todessehnsüchtige Wildwest-Weise verwandeln kann in tanzbaren Reggae, wie das Eric Clapton tat mit «Knockin on Heaven’s Door», dann probiert das ein Selbstzitatmeister wie Dylan auch selbst («Live at Budokan»). In Jamaika aber ist alles Reggae. Jimmy Cliff änderte hierfür nur die Augenfarbe. Statt eines «blauäugigen» Burschen, fragt Cliff einfach den «braunäugigen Sohn», was er gesehen, was gehört, wo er sich rumgetrieben hat («A hard Rain’s a-gonna fall»). Ein Song, wie beim Barte des Propheten auf dem Sinai geschrieben; Rotzlöffel Dylan aber war da nur 22 Jahre alt.
Hardrock rollt Steine zu den Steinen. «Am Himmelstor klopfen» auch Dezibelbüezer mit knallenger Lederhose. Gun’s N’Roses präparierten den Ohrwurm fürs Stadion: Gellen zum Gähnen. Immerhin hatte Dylan seiner Band 1966 in London befohlen, trotzig wie ein Metaller: «Fucking loud!» So lieferten auch Dave Alvin und seine Blasters schweisstreibendes Handwerk auf Dylans «Highway 61». Oder Alanis Morissette mit «Subterranean Homesick Blues». Alt und Jung machen fürs höhere Fach «Bobness» brav ihre Hausaufgaben. Aber …! Dylan war erst zufrieden, wenn sich Rock anhörte wie «Quecksilber». Wie auf «Blonde on Blonde», dem ersten Doppelalbum der Popgeschichte. Von dergleichen waren Dampfklampfen weit entfernt.
Dann aber wagten sich die Stones an «Like a rolling Stone», den «besten Popsong aller Zeiten», gemäss Rating von «Rolling Stone», dem Magazin. Die Stones wirkten, dank Dylan, plötzlich echter, als sie je gewesen waren.
Einst psychedelisch, heute sexy. «All along the Watchtower» ist als Original schon stark. War stärker noch live mit The Band. Ein Cover aber überragt alles – unsterblich Jimi Hendrix, 1968: der sogenannt psychedelische Stil. «Die Zeiten haben geändert», sang Dylan vorher schon, 1964. Bitte schön, was hat sich denn geändert? Aktuell erzielt, unter anderem mit Dylans «Watchtower», eine Jess Greenberg über 100 Millionen Klicks auf Youtube. Jess, Jahrgang 1994, spielt das Opa-Stück mit Schmollmund – ansehnlich.
Hippie-Eltern haben Punkkinder. Zwei Schwellen schien Dylan mit seiner Generation zu überschreiten: vom Protest zu den Blumen. Und von Blumen zu Drogen. Keine Kommunarden-Truppe trat ohne Bob im Repertoire auf die Heubühnen kommerzfreier Open-Airs. Er wurde dreimal länger und tönte jetzt mittelalterlich oder esoterisch. Von «Dear Landlord» gibts eine Version der wunderbar chaotischen Fairport Convention.
Dylan veröffentlichte den Song nach einem schweren Töffunfall und langer Retraite. Ausgerechnet in jener Phase wuchs sein Ruhm ins Irrationale. 1970 trennten sich die Beatles, Jimi Hendrix und Janis Joplin starben, Big Business übernahm den Laden. Und Dylan? Er fing ganz neu an. Jetzt aber waren die Töchter und Söhne der Hippies geladen, mit Punk. Es kam zum Clash, mindestens zur Gruppe Clash. Denen kam Dylan gerade recht, mit seinem «The Man in me».
Christliche Mahnwache im Sündenbabel – beide mit Dylan. «Das nächste Mal, wenn du mich kommen siehst», sagt Gott zu Abraham, «nimmst du besser Reissaus.» So schnoddrig deutet Dylan die Bibel um in «Highway 61 Revisited». Gleichwohl eignet sich ein ganzer Stapel seiner Lieder für Mahnwachen der Heilsarmee. Und seine Weihnachts-CD für den Samichlaus der Shopping Mall in künstlichem Schnee. Christen wettern, mit Bob «auf ihrer Seite», gegen die bunteste Lasterhöhle der Welt, Las Vegas. Und dann kann es geschehen, dass von drinnen wieder Dylan erklingt, aus den Casinosälen. Früher sang dort Elvis Dylans schmerzliches «Tomorrow is a long Time», später die Vegas-Diva Cher «I threw it all away».
Dylan Zero oder Opernpomp. Auch eine Outlaw-Version von «Tomorrow is a long Time» kann man hören. Sie stammt vom Indiana Jones der Gitarre, Blue Slide Joe. Oder das Gegenteil, wenn Dylan pompös zugebuttert wird. Eine kanadische Klontruppe im Stil der Drei Tenöre nahm sich «Forever Young» zur vollen Brust.
Die Kuschelabteilung wurde ebenfalls fündig. Sei es Joe Cocker, sei es Norah Jones, selbst Adele («Make you feel my Love»). «Just like a Woman» wurde beiläufig mal gnadenlos verspottet: von Woody Allen im Film «Stadtneurotiker». Man versteht, wieso Dylan seine Lieder auch zersägte. Christbaum-Schlager singt er wie ein Crackdealer auf Entzug. Umso verblüffender, wie samten er heute klingt, fast wieder wie auf «Nashville Skyline». Jetzt, da er Sinatra nachahmt.
Country, frei von Rednecks. Country war verhasst bei Blumenkindern, galt als Corral von Redneck-Büffeln und lunatischen Reaktionären. Bis
Dylan seinen Anhang mit einem Gespenst eben daraus erschreckte, Johnny Cash (zehn Jahre später sollte er mit Jesus alle vollends bestürzen). Doch die Puristen konnten ihre Ohren nicht verstopfen. Dylan/Cash bei «Girl from the North Country» war schlicht und ergreifend, also erstklassig.
Cash wurde rehabilitiert, schliesslich gar nobilitiert, als Daniel Lanois seine letzten Alben abmischte, Produzent schon bei «Oh Mercy» und «Time out of Mind», Dylans Meisterwerken. Weitere Missing Links zum Country waren die Highwaymen Kris Kristofferson und Willie Nelson. Nelson dann die Brücke zur Texmex-Szene. Los Lobos sangen «On a Night like this», zweisprachig. In einem Cover von «Señor» muss Willie Nelson die Chicano-Band Calexico erheblich mässigen, denen schmetternd das Mariachi-Pathos durchging. Auch Cowboys schafften es spielend, Dylan bei sich anzusiedeln, im Bible-Belt, wo Mommy und Dad mit Kids beten («Precious Memorys»).
Cantautori, Chansonniers, Liedermacher, Austropop. Mühelos übersprang Dylan Länder-, Kultur- und Kontinentalgrenzen. «Chimes of Freedom» hört man in Afrikas Savanne, «Romance no Deserto» im Regenwald Brasiliens (Amado Batista). Britannien, wovon vieles ausging, um das «American Songbook» zu füllen, holte Dylan gleichsam zurück, mit Dudelsack und irischer Flöte. «Restless Farewell» von Mark Knopfler ist Bob als Albion. In Italien wuchsen Cantautori an Dylan (Fabrizio de André, gestorben 1999). Oder Francesco De Gregori («Un angioletto come te»). Francis Cabrel, französischer Superstar, spielte mit dem Komponisten von Céline Dion und Khaled, Jean-Jacques Goldman, das Cash/Dylan-Duett ein («La Fille du Nord»). Wolfgang Niedecken brachte Dylan nach Köln. Austropop gäbe es nicht ohne Singer-Songwriter wie ihn. Wolfgang Ambros’ Fassung von «Corinna Corinna» ist melancholisch cool.
Durchzogen auf Schweizer Dialekt. Was Schweizer Stimmen aus Dylan machen, konnte man am Pfingstmontag sehen auf SF DRS. Wörtliche Dialektübersetzungen scheitern meist am Silbenkorsett, «nachempfundene» Übersetzungen fallen rasch ab. Dazu war man nicht frei von Erinnerungsschummer. Einer fehlte: Phil Carmen, als perfektionistischer Klangtüftler ein Beispiel, wie man Dylan glättet. Evelinn Trouble bewies mit «Love Sick» das glühende Gegenteil. Den Machobarden mögen auffällig viele Musikerinnen. Anderes Kraftbündel: Sheryl Crow live, mit «Mississippi». Schade, war Hendrix Ackle bloss Begleiter; seit Jahren exzellenter Dylan-Interpret.
David Gray, Passenger, Ed Sheeran. Und Dylans ursprüngliches Biotop wäre restlos verdampft? Diese unschuldige Welt des klugen sensiblen Einzelgängers? Ganz im Gegenteil: Mit nichts als gezupfter Gitarre füllen Jungspunde, der Siff-Kiste der Jugendarbeitslosigkeit entsprungen, wieder Stadien. Teils mit Dylan wie am Anfang, weicher noch als bei Peter, Paul und Mary (Ed Sheeran mit «Don’t think twice»). Teils kernig im alt-verrauchten Pub (David Gray). Teils in auffälliger Vermeidung von Dylan-Titeln, aber liedtechnisch mit all seinen frühen Eigenheiten – wie Passenger.
Gospel und ein reuiger Tiger. Zu sprechen ist am Schluss von einem Phänomen, das auch musikalisch seinen Ausdruck sucht: Reue. «Je ne regrette rien», hatte Edith Piaf gesungen. Das andere ist weitaus verbreiteter. Viele suchen im Herbst ihrer Karriere Worte und Melodien für das, was ihnen vielleicht am Ende erscheint als das Wesentliche. Oft am nächsten liegt ihnen da Bob Dylan. Dylan war, wie gesehen, schon «alt» als Twen.
Es überrascht nicht, wenn Leute aus dem Blues, Soul und Gospel Dylan singen (The O’Jays mit «I’ll remember you»). Bemerkenswert aber ist, wenn als «elend flach» verschriene Nummern aus Dylans christlicher Fundi-Zeit bei grossen Stimmen mitreissend klingen. Wie «Pressing on» bei Regina McCrary und dem Chicago Mass Choir. Ein Song, wofür sie Dylan dankt, als habe er sie aus dunkler Stunde ins Leben zurückfinden lassen.
Wie gut bin ich wirklich? Die Frage stellen sich irgendwann auch virile
Typen. Wenn die Kraft schwindet, die Einsicht steigt, Illusionen vergeigt zu haben. Tom Jones’ Interpretation von Dylans «What good am I» hinterlässt gemischte Gefühle. Irgendwann spricht der «Tiger» selber; er habe es wohl mit dem Sex übertrieben. Dann macht er weiter mit Dylans Text. Und alle Peinlichkeit ist verschwunden.
Was war es noch, was Dylan wollte? «Zerbrach die Platte oder sprang die Nadel?» Es war nur die Nadel. Aber sie sprang bei Dylan wunderbar oft in die Rille der Wahrhaftigkeit.