Musik über und unterm Wort

In der Kathedrale St. Gallen wurde vorgestern das Kremser Requiem uraufgeführt. Komponist Francisco Obieta bleibt in sensibler Nähe zum Text Ivo Ledergerbers.

Martin Preisser
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Eine Uraufführung ist eine Geburt. Etwas mehr als fünf Viertel Stunden dauerte sie, und der Charakter des Kindes hat sich offenbart: Francisco Obieta hat ein Requiem geschrieben, das auf allzu grosse Theatralik bei den letzten Fragen verzichtet und die Balance zwischen Lebens- und Todessphäre mit feinsinniger Eindringlichkeit hält. Obieta bleibt nah am Text Ivo Ledergerbers.

Er pfropft keine Musik aufs Wort oder deckt es pompös zu, sondern geht atmosphärisch sorgsam auf die Räume ein, die Ledergerbers Kremser Requiem jenseits des rein Geschriebenen eröffnen.

Orchestrale Höhepunkte

Mit absteigender Terz und Sekund wird das Requiem eröffnet, ein Glockenspiel unterstützt diese Art Reflexion über das Requiem an sich.

Wie hier und in den acht folgenden Requiem-Teilen gelingen Francisco Obieta Höhepunkte besonders in den orchestralen Teilen, die er erfolgreich dazu benutzt, über vorgängig Gesagtes rein instrumental zu reflektieren.

Obieta denkt das Orchester stets gesanglich, scheut auch in der Begleitung von Soli und Chor nicht vor farbigem orchestralem Eigenleben zurück. Mitglieder des Sinfonieorchesters St.

Gallen und das gut disponierte Collegium Vocale gestalteten das Requiem unter Leitung von Domkapellmeister Hans Eberhard.

Sein vertraut ruhiges und umsichtiges Dirigat steuerte nicht wenig dazu bei, dass der ganze Ablauf der anspruchsvollen Partitur von ruhigem Fluss getragen war. Die Solisten (Kimberly Brockman, Angela Göldi, Neal Banerjee, David Maze und Paulo Medeiros) hat Francisco Obieta in den Chor integriert und mochte dabei das Kollektive der Fragen um Leben und Sterben unterstrichen haben.

Klangliche Sorgfalt

Lange verweilt die Musik bei Ivo Ledergerbers eröffnenden drei Fragen über das Dasein. Die Worte des Schriftstellers haben viel in Francisco Obieta ausgelöst. Der Komponist lässt sich von ihnen tragen und vertont sie auch in den effektvollen Partien mit viel Behutsamkeit. Dieses Nichtzuviel, dieses Nichtzudick, diese vorsichtige Sorgfalt waren es, die den Eindruck eines introvertiert gedachten Requiems und eine Begeisterung hinterliessen, die aus diesem musikalischen Fingerspitzengefühl des Tonsetzers resultierte.

Sphärenhafte Trauermusik im Intermezzo zum dritten Teil, in dem «Das Leben fliegt» mit Streicherpizzicati und Orgel hinterlegt wird. Rhythmisch raffiniert wird dann die Frage beantwortet, ob «das letzte Wort schon gesagt» sei. Elegante Cluster im Abschnitt «Vom Rechten und vom Richten», und dann das Kernstück «Von den Toten»: Antipompöse Dies Irae- Stimmung, packende Klangideen, die immer von einer klaren Intimität umhüllt schienen. «Befreit uns» erscholl der Aufruf und dafür eine auf Willibald Guggenmos zugeschnittene Orgeleinlage.

Ein kleiner Schuss Tango

Feinsinniger «Hexensabbat», wieder ohne oberflächliche Klangverführung im siebten Teil, und im Schlussteil zart sordino gehaltene Passionsmusik, die das Ende dieses Kremser Requiems einleitete. Francesco Obieta hat Ivo Ledergerbers speziellen Text nie zugedeckt. Ledergerbers schönes Bild «vom Keller und vom Estrich» hat Obieta gerne aufgenommen und in diesen beiden «Stockwerken» über und unter dem Wort zu speziellen klanglichen Lösungen gefunden.

Und dass da einige Male auch ein Schuss Tango à la Piazzolla nicht fehlen durfte, machte das Requiem des gebürtigen Argentiniers zusätzlich sympathisch.