Am Montreux Jazz Festival findet eine Verlagerung zu einem Erlebnis- und Gratisfestival statt. Wir haben das neue Angebot geprüft.
«Es ist mir eine grosse Ehre, hier in Montreux zu sein», sagt Sam Ryder und verweist auf sein grosses Idol Freddie Mercury, der hier am Genfersee mit Queen sechs Alben aufgenommen hatte. Der englische Sänger mit der blonden Mähne, den stahlblauen Augen und dem Wikingerbart hat beim Eurovision Song Contest den zweiten Platz belegt und gilt für viele als eigentlicher Sieger.
In Montreux steht er mit Weltraumanzug auf der Bühne, ist ein charmanter Entertainer und erinnert stimmlich in den besten Momenten tatsächlich an Freddie Mercury. Die Menge tobt und jubelt, ist begeistert. Der Newcomer tritt aber nicht im Hauptsaal, dem Auditorium Stravinski, auf. Wir befinden uns im Gratisprogramm des Montreux Jazz Festival.
Das Festival am Genfersee, wie überhaupt die gesamte Schweizer Festivallandschaft, ist im Umbruch. Die Leute um Festivalleiter Mathieu Jaton haben sich in den Coronajahren viel Gedanken zur Zukunft des Festivals gemacht.
Das Problem: Für unabhängige Schweizer Festivals wird es immer schwieriger werden, grosse Stars und grosse Namen zu engagieren. In Montreux kommt dazu, dass dem Festival durch die Räumlichkeiten und die Infrastruktur Grenzen gesetzt sind, die inzwischen erreicht und manchmal schon überschritten wurden. Das Festival kann nicht mehr wachsen.
Dazu kommt das veränderte Festivalverhalten der nachstossenden Generation. Wie kann man sie für Montreux gewinnen? Sie orientieren sich nachweislich weniger an den grossen Namen, suchen stattdessen das Festivalerlebnis. Montreux trägt diesem Verhalten Rechnung und hat schon in diesem Jahr massiv in diesen Bereich investiert. «Montreux wird ein hybrides Festival sein, das ein grösstmögliches physisches Erlebnis garantiert», sagt Jaton.
So stehen in diesem Jahr auf elf Bühnen und Lokalitäten 450 Aktivitäten auf dem Programm. Umgekehrt hat Montreux das Bezahlprogramm in drei Sälen auf zwei reduziert. Schon bisher hat der Gratisbereich über die Konsumation rund 80 Prozent der Einnahmen generiert. Das wird sich jetzt noch akzentuieren. In Montreux findet eine Verlagerung statt.
Herzstück dieser Verlagerung zur Erlebnis- und Gratiskultur ist das «Lake House» im Pavillon vis-à-vis des Montreux Palace. Auf drei Etagen gibt es hier zum Beispiel eine Bibliothek für 20 Leute, ein Kino für 40 Leute und unten das Prunkstück, den Konzertclub The Memphis.
Ein Gratis-Jazzclub für gut 200 Leute und die neue Generation von Jazzmusikerinnen und Jazzmusikern. «Wir sehen das ‹Lake House› als eine Brutstätte der Kunst. Ziel ist es, das Herz des Festivals ins ‹Lake House› zu verschieben», sagt Jaton. 1500 Besuchende pro Tag von 5 Uhr abends bis 5 Uhr am Morgen.
In Jazzkreisen war man natürlich nicht begeistert, als ausgerechnet die dritte Festivalreihe, die dem Jazz gewidmet war, gestrichen wurde. Doch wie reagiert das Publikum auf die Verlagerung? Wir haben das «Lake House» geprüft.
Um 17.30 Uhr ist es in Montreux immer noch knapp 30 Grad. Die acht klimatisierten Räume im «Lake House» bieten willkommene Abkühlung. So drängt eine Schar von Leuten in die kleine Bibliothek. Zwischen auserlesenen Musikbüchern erzählt hier John McLaughlin aus seiner langen Karriere und stellt sein aktuelles Album «The Montreux Years» vor.
Der 80-jährige Star-Gitarrist ist eine lebende Legende, aber auch ein netter, nahbarer Musiker, dem man sein Alter nicht ansieht und der immer noch auf der Suche nach dem ultimativen Klang ist. Bereitwillig gibt er Autogramme, lässt sich auf Small Talk ein. Mehrmals entschuldigt er sich bei seinen Fans, weil er zwei Etagen weiter nach oben gehen muss, da in der Bar von «La Loggia» mit ihm ein Podcast zum Thema «Was ist Jazz?» aufgenommen wird.
Gleich nebenan im «Le cinéma» sind auch alle Plätze besetzt. Wer keinen Sitzplatz findet, steht entlang der Wand. Gezeigt wird der Auftritt des brasilianischen Musikers Seu Jorge in Montreux aus dem Jahr 2018, der beweist, dass er nicht nur ein grandioser, origineller Musiker ist, sondern auch ein Entertainer und Geschichtenerzähler.
Eine Sternstunde aus dem reichen Archiv von Montreux. Bis nach drei Uhr in der Nacht dauert das Programm mit Musikfilmen mit Sly & Robbie und Nils Petter Movaer, Quincy Jones, Tom Jones und Lenny Kravitz.
Um 18 Uhr ist im Gratisclub «The Memphis» die Schweizer Experimental-Harfenistin Kety Fusco angesagt. In einer abenteuerlichen Performance an zwei Harfen, einem Arsenal von Effektgeräten demonstriert sie einem staunenden Publikum, wie man das einstige Engelsinstrument auch noch spielen kann. Eine echte Entdeckung. Auch ihr Konzert ist gut besetzt.
Proppenvoll ist «The Memphis» dann um 20 Uhr bei der aus Burundi stammenden, in Lausanne lebenden Nnavy. Eine aufstrebende Sängerin mit einer eleganten, sanften Stimme. Höhepunkt des Abends ist aber das Konzert von Theon Cross und seinem Quartett mit der Saxofonistin Chelsea Carmichael.
Der Londoner Tuba-Spieler ist einer der führenden Musiker in der Londoner Szene und wurde bekannt in der Band Sons Of Kemet mit Shabaka Hutchings. In seiner eigenen Band überwindet er physikalische Gesetze, bringt sein schweres Instrument zum Fliegen und führt es auf eine andere, multidimensionale Ebene. Seine Tuba ist nicht nur Bass und Melodieinstrument. Wenn Cross seine Salven abfeuert, wird seine Tuba zum Gewehr, zum Perkussionsinstrument.
Inzwischen trudelt in der ersten Etage, im «La Coupole», das tanzwütige Partyvolk ein. Wer will, kann hier bis um fünf Uhr in der Früh zu einem DJ-Set mit Funk, Disco und House tanzen, feiern und trinken. Nichts für mich, aber wir sind begeistert von der Vielfalt an Möglichkeiten und Angeboten.
Ein Blick in das Programm lohnt sich, und vor allem auch Jazzfreunde kommen hier voll auf ihre Rechnung. Das «Lake House» scheint jedenfalls einem Bedürfnis zu entsprechen. Für das Montreux Jazz Festival kann die Zukunft beginnen.