Migros Museum Zürich: Aids im Spiegel der Kunst

Mit Kunstwerken von damals und heute beleuchtet das Migros Museum in Zürich die grosse Aids-Krise der 1980er-Jahre.

Deborah Keller
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Zu sehen in Zürich: «La Marche de soutien contre le Sida» des kongolesischen Künstlers Chéri Samba. (Bild: ZVG)

Zu sehen in Zürich: «La Marche de soutien contre le Sida» des kongolesischen Künstlers Chéri Samba. (Bild: ZVG)

Durch eine ungewohnt schmale Türe betritt man eine funktionale kleine Wohnzelle. Schlafstätte, Bad und Küche sind so knapp wie möglich bemessen, spartanisch und komplett weiss möbliert. Fenster gibt es keine, nur ein Oberlicht, durch das der Tag in die «Klause» eindringt.

Von aussen mutet die minimalistische Architektur mit ihrem abgerundeten Dach daher eher wie ein riesiger Duplo-Stein als wie eine Wohnstätte an. Der 1993 an Aids gestorbene israelische Künstler Absalon hat sechs solcher «Cellules» entwickelt für ein Leben in sechs Metropolen. Das für Zürich bestimmte Modell steht nun im Migros Museum in der Ausstellung United by Aids symbolisch für den meist zwangsläufigen sozialen Rückzug HIV-kranker Personen.

Er habe keine «Stop-Aids-Ausstellung» machen wollen, sagt Kurator Raphael Gygax, sondern eine Schau, welche die grosse Pandemie der 1980er-Jahre aus Sicht und im Umfeld der bildenden Kunst beleuchtet. Die Liste der beteiligten Kunstschaffenden, von denen mehrere in den frühen oder mittleren 1990ern gestorben sind, macht denn auch rasch klar: Auch die Kunstwelt war von der Krankheit stark betroffen. Ganze «Communities» seien etwa in New York, einem der «Epizentren» von Aids Mitte 1980er, ausgelöscht worden, während die Reagan- Regierung das Problem lange beharrlich totschwieg.

Zeitgenössische und historische Blickwinkel

Um den Puls der damaligen Kunstszene zu fühlen, gruppiert Gygax historische Werke in drei Kapitel und ergänzt diese um ein viertes, in dem zeitgenössische Positionen die heute fatalerweise fast überwunden geglaubte Problematik reflektieren. Dabei gilt es zu vergegenwärtigen: Auch diese umfangreiche, fundiert recherchierte Ausstellung zeigt eine heutige Perspektive, die auswählt, gewichtet und deutet.

Absalon beispielsweise sah seine «Cellules» in erster Linie als Mittel zur Individualisierung innerhalb des Grossstadtgefüges. Dennoch haben sie als Ausdruck des HIV-kranken Künstlers ihre Folgerichtigkeit im ersten Kapitel der Schau, das uns mit den Stichworten Erasure, Void, Remembrance sogleich «in medias res» versetzt.

Hier wie im zweiten Kapitel, das dem New York von damals gewidmet ist, halten sich Werke von bekannteren mit solchen von nicht kanonisierten Namen die Waage, Arbeiten, die durch die HIV-Erkrankung ihrer Schöpfer für die Schau von Bedeutung sind mit solchen, die Aids ausdrücklich thematisieren. Nan Goldins Fotoserie über die infizierte Schauspielerin Cookie Mueller, die sie als Freundin mit der Kamera bis zum Sterbebett begleitete, ist unter den Letzteren als eindringliches Beispiel zu nennen.

Das dritte historische Kapitel zeigt am deutlichsten die Auswirkungen der Aids-Krise auf die Kunstproduktion, indem es politaktivistische Arbeiten in den Fokus stellt. Das Kollektiv Group Material zum Beispiel prangerte auf Bus-Werbeflächen die ignorante Haltung der Politik gegenüber der Aids-Krise an und erstellte dazu eine der ersten Zeitleisten, welche sie 1990 in verschiedenen Kunstmagazinen – darunter auch das Schweizer Heft Parkett – in Teilstücken veröffentlichen konnten. Ungläubig liest man etwa, dass 1984 ein Artikel der National Review Tatoos als Kennzeichnung von Aids-Kranken forderte.

Im zeitgenössischen Teil der Ausstellung finden sich künstlerisch-dokumentarische neben freien Interpretationen zum Thema. Carlos Motta etwa führt in einer qualvoll anzuschauenden Videoperformance die Aids-Chronologie bis ins Heute fort: Rund 38 Millionen Menschen weltweit leben derzeit mit HIV, ist da zu erfahren, und 1,7 Millionen weltweit waren 2018 neu infiziert.

Die Aids-Krise mag dank medizinischer Fortschritte und angesichts anderer akuter Weltprobleme in den Hintergrund gerückt sein. Vorbei ist sie nicht. Wie sehr sie die Gesellschaft zersetzt, aber auch wie wichtig Kunst als Tool der Sichtbarkeit und der Erinnerung sein kann, das führt die Schau, wenn auch nicht alle Werke dieselbe Kraft entfalten, eindrücklich vor Augen.