«Mein Herz ist gebrochen»

Unglaublich, aber wahr: Ein Indianer-Chief reiste 1923 durch die Schweiz, um für einen eigenen Staat der Irokesen zu werben. Der Zürcher Journalist Willi Wottreng schildert es in «Ein Irokese am Genfersee».

Hansruedi Kugler
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Irokesen-Chief Deskaheh 1923 in Zürich in der prächtigen Montur eines Plains-Indianers. Die originale Irokesenbekleidung und -bemalung schien ihm für den Besuch in Europa zu furchterregend. Links hinter ihm Gastgeber Paul E. Haug, links Deskahehs Geliebte Hedwige Barblan. (Bild: Bilger Verlag/Familienbesitz Haug)

Irokesen-Chief Deskaheh 1923 in Zürich in der prächtigen Montur eines Plains-Indianers. Die originale Irokesenbekleidung und -bemalung schien ihm für den Besuch in Europa zu furchterregend. Links hinter ihm Gastgeber Paul E. Haug, links Deskahehs Geliebte Hedwige Barblan. (Bild: Bilger Verlag/Familienbesitz Haug)

Da sitzt im Herbst 1923 der Indianer-Chief Deskaheh in der Zürcher Wohnstube des Kaufmanns Paul E. Haug: in voller Montur, die linke Hand auf der gehäkelten Tischdecke, angehimmelt von der jungen Hedwige Barblan, umgeben von ernst blickenden Unterstützern. Der Irokese ist auf Werbetour – nicht etwa für eine der beliebten exotischen Shows, sondern für die Anerkennung der Souveränität seiner Six Nations im nordöstlichen Grenzgebiet ­ der USA und Kanada. Die Säle in Genf, Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich sind voll, das Publikum vom charismatischen, perfekt Englisch sprechenden Indianer-Chief begeistert. Seine Mission vor dem Völkerbund in Genf aber wird scheitern. Die Irokesen werden keinen Staat bekommen. Diplomatische Rücksicht auf das Mitgliedland Kanada überwiegt, Separatismus war damals wie heute ein politisch heisses Eisen. Man braucht nur an Kurdistan, Tibet oder Kosovo zu denken.

Verblüffende politische Parallelen zur Schweiz

So überraschend und skurril die Geschichte tönen mag, sie ist nicht erfunden. Was der Zürcher Journalist und Buchautor Willi Wottreng in seinem Buch «Ein Irokese am Genfersee» literarisch leicht ausgeschmückt erzählt, ist zudem viel mehr als eine Randepisode der Leidensgeschichte der Indigenen Nordamerikas: Wottreng beschreibt einen hoch interessanten Kampf eines unterdrückten und bevormundeten Kleinvolkes um Souveränität. Er tut dies berührend ohne Rührseligkeit, mit nüchternem Erzählstil und gelegentlichem Schalk. Vor allem aber mit einem politisch-historischen Überblick, der den Zwiespalt des politischen Separatismus nicht unterschlägt.

Dass Deskaheh in der Schweiz auf Werbetour geht, hat mit dem Völkerbund zu tun, der nach dem Ersten Weltkrieg mit 32 Staaten gegründet seinen Sitz in Genf hatte. Deskaheh trumpft mit politischen Parallelen auf: Die Irokesen seien Urdemokraten, hätten um 1400 den ersten demokratischen Staatenbund gegründet, fast gleichzeitig mit der Eidgenossenschaft. Ihr Zweikammersystem und die Idee einer Föderation hätten andere in ihre Verfassung übernommen: die USA 1787, die Schweiz 1848. Mehr noch: Neutralität und Frauenstimmrecht seien bei den Irokesen selbstverständlich. Die britischen Frauenrechtlerinnen sind entzückt, viele Schweizer beeindruckt und Abstinenzler begeistert: Deskaheh trinkt nur Milch, denn Alkoholismus war und ist in Indianergebieten ein Problem.

Eine Liebesgeschichte und vielleicht ein Giftmord

Wottreng erzählt Deskahehs Mission chronologisch nach: Wie er vom indianischen Kleinbauern wegen seinem Redetalent zum Chief aufsteigt, den Ehrentitel Deskaheh erhält und die Bevormundung durch die kanadische Regierung bekämpft. Dann tauscht er seine einfachen Kleider mit einem selbst genähten prächtigen Kostüm der Plains-­Indianer (die Irokesenmontur sah zu furchteinflössend aus) und fährt so nach Europa. Dort wird er vom britischen Kolonialminister Winston Churchill brüsk zurückgewiesen, geht in Genf eine Liebschaft ein und absolviert eine diplomatische Ochsentour. Am Ende kehrt er mit gebrochenem Herzen resigniert zurück und stirbt unter ungeklärten Umständen. Vielleicht durch Giftmord der kanadischen Regierung? Wottreng deutet dies an. Es war das Ende des Kampfes um die Souveränität, welche die Briten den Irokesen 1784 mittels Landgeschenk für deren Hilfe im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bestätigt hatten.

Viel genutzt hat Deskahehs Engagement in Genf nicht. Deskaheh posiert mit der Irokesenkommission in Genf, Palais de l'Athénée. (Bild: Bilger Verlag)

Viel genutzt hat Deskahehs Engagement in Genf nicht. Deskaheh posiert mit der Irokesenkommission in Genf, Palais de l'Athénée. (Bild: Bilger Verlag)

Alles das baut Willi Wottreng in eine etwas holprige Rahmenhandlung ein: Eine heutige Staatsanwältin findet bei einer Hausdurchsuchung ein Album mit einem Foto Deskahehs. Ihre Recherchen führen sie erst in Archive und am Ende des Buches nach Nordamerika. Dort schliesst sich der Rahmen mit der Schilderung der heutigen Lage der rund 70000 Irokesen. So dezent Willi Wottreng Deskahehs Romanze mit der jungen Genferin Hedwige Barblan schildert, so pointiert nimmt er öfters die hiesige Romantisierung Deskahehs zum «edlen Wilden» aufs Korn. Spannend beschreibt er auch die Konflikte mit der kanadischen Regierung: Mit kolonialistischer und rassistischer Überheblichkeit sieht sie die Indianer als unmündige Kinder an, denen man kanadische Demokratie und Aufklärung bringen müsse – notfalls mit Gewalt. Umgekehrt sind die Irokesen uneins: Kanadische Staatsbürgerschaft oder Kampf um Souveränität? Erst seit 2007 stehen die Rechte der Indigenen in der kanadischen Verfassung. Der Konflikt aber ist ungelöst, was Landbesetzungen durch Irokesen bis in die Gegenwart beweisen.

Willi Wottreng: Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte. Bilger, 198 S., Fr. 30.-