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In Düsseldorf wurde er zum internationalen Star. Nun wagt der St.Galler Choreograf Martin Schläpfer den grossen Sprung nach Wien. Wie erlebt er seine letzte Uraufführung an der alten Wirkungsstätte?
Noch drei Tage. Dann ist Premiere, die letzte mit dieser Compagnie, die letzte in diesem Haus. Der grosse Abschied, er ist greifbar nahe. Im Juni verlässt Martin Schläpfer sein Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, er wird Leiter des Balletts der Wiener Staatsoper. Ein Karrieresprung, sagen Kenner. Ein Verlust, sagen Düsseldorfer. Ein Risiko, sagen Wiener.
Und Martin Schläpfer? Über Wien mag er nicht gross sprechen. Die Arbeit für den neuen Direktionsposten hat längst begonnen, wöchentliche Telefontermine mit Wien, alle zwei Monate Marathonmeetings, die erste Spielzeit steht. Aber jetzt geht es um «b.41», seinen 41. Ballettabend, den er in Düsseldorf verantwortet. Die Uraufführung «Cellokonzert» hat er für alle 45 Tänzerinnen und Tänzer choreografiert.
Die erste Hauptprobe war «a bit messy», wie Martin Schläpfer, 60, in seinem deutsch-englischen Sprachgemisch sagt. Wenn das Stück zum ersten Mal in Kostüm, Licht und Maske geprobt wird, ist das «meist ein völliger Supergau», sagt Schläpfer.
Noch zwei Tage bis zur Premiere. Um 10 Uhr morgens ist Training für die Compagnie im Ballettsaal, an der Stange, quer durch den Raum. Ballettmeister Callum Hastie gibt Anweisungen, korrigiert aber nicht, und wenn sich jemand lieber dehnt oder den Fuss massiert, ist das auch ok, die Tänzer sind Profis, sie wissen, was sie brauchen.
Nach dem Training kommt Martin Schläpfer in den Ballettsaal, leicht vornübergebeugt, unrund gehend, in weiten Trainingshosen, grauem Shirt, schwarze Stoffüberzieher über den Turnschuhen. Er setzt sich auf einen Hocker vor der Spiegelwand, geht die Korrekturen durch, aber lange bleibt er nicht sitzen. «Das kann grösser sein, freier», sagt er, und zeigt vor was er meint. Die Tänzerinnen und Tänzer als eigenständige Künstler ernstnehmen: Das macht vielleicht das Tanzschaffen von Martin Schläpfer aus.
Am Abend beginnt die zweite Hauptprobe. Schläpfer sitzt im Zuschauerraum des Opernhauses, mit den Choreografien von Jiří Kilián und Martha Graham, die in «b.41» vor seinem «Cellokonzert» getanzt werden, hat er nichts zu tun. Aber er schaut sich die Probe an, «selbstverständlich». Hier findet er das Licht zu hell, da stört ihn, dass der Vorhang nicht geschlossen ist: «Ich hasse offene Vorhänge, da gehen die Geister raus.»
Doch er sagt nichts, «ich bin nicht mehr der Chef». Seit zwei Jahren ist er nicht mehr Ballettdirektor, sondern Chefchoreograf und künstlerischer Direktor, er wollte kürzertreten. Dann kam die Anfrage aus Wien.
Schläpfer setzt sich hinters Regiepult, zwischen Beleuchtungsinspektor Thomas Diek und Ballettmeister Callum Hastie. Schläpfer durchlebt mit seinen Tänzern das «Cellokonzert», seine Hände tanzen mit, sein Kopf, sein Oberkörper, er klatscht einen Rhythmus vor, flüstert Hastie Kritik zu, Diek Fehler im Licht. «Thank you very much», sagt Schläpfer ins Mikrofon zu seiner Compagnie nach dem Durchlauf. Die Korrekturen gibt er nach der Generalprobe durch, jetzt seien seine Tänzer müde, die Muskeln müssten sich erholen. Und er will noch leuchten.
I’m a lightning maniac.
Zwei Tage haben er und Thomas Diek die Beleuchtung eingerichtet, Lichtstimmungen kreiert, korrigiert. Aber es stimmt noch nicht.
Das Orchester hat den Graben verlassen, die Tänzer die Bühne. Thomas Diek stellt Schläpfer einen Becher Kaffee hin, die beiden sitzen allein im grossen Saal, 50er-Jahre Charme, samtrote Klappsitze bis in den dritten Rang, lachsbraun gestrichene Wände. Schläpfer und Diek feilen an Details. Dort fünf Prozent weniger Gassenlicht, hier ein Übergang in sieben statt acht Sekunden, da die Scheinwerfer 4107 bis 4110 nur in Weiss, «minus zehn, nein plus fünf, sonst säuft’s weg». Schläpfer mag, dass auch Thomas Diek sucht und sucht, bis es perfekt ist. Diek wird Schläpfers erste Premiere in Wien leuchten.
Zur Premiere von «Cellokonzert» haben sich 50 Journalisten angemeldet, sonst kamen immer um die 30. Alle wollen mit Schläpfer über Wien reden. «Wien ist eine grosse, grosse Herausforderung», sagt Schläpfer. Sie komme zum richtigen Zeitpunkt, Bewegung tut gut:
Ich finde, I’m ready to go. When it’s time to go, it’s time to go.
Wiener Staatsballett, das heisst 105 Tänzer, eine der grössten Compagnien weltweit, heisst auch Hierarchie: Erste Solotänzer, Solotänzer, Halbsolisten und Corps de ballet. Bei Schläpfer in Düsseldorf haben alle Tänzer einen Solovertrag. Und Wiener Staatsballett heisst grosse Tradition, klassisches Repertoire, «Schwanensee» von Nurejew, «Onegin» von Cranko. Klassisches Ballett als lebendiges Museum.
Diesen riesigen Dampfer wird Schläpfer in neue Fahrwasser lenken, behutsam. «Ich habe den Ruf, Klassik nicht zu mögen, aber das ist nicht wahr», sagt er. Als schaffender Künstler drücke er aus, was uns heute bewegt.
Noch einen Tag bis zur Premiere. Um 11 Uhr beginnt die Generalprobe, danach haben seine Tänzer frei. Das Feedback kann er ihnen erst am Premierenmorgen geben. Früher hätte ihn das «furious» gemacht. Martin Schläpfer korrigiert letzte Lichtstimmungen, dann muss er ins Büro, und eigentlich will er noch einen Pullover kaufen, nichts passt mehr, ja, sagt er und grinst, er habe zugenommen.
Am Abend sitzt er noch immer im Büro, zum Shopping hat er es nicht geschafft, auch nicht zum Essen. Er kocht sich Reis in der Kaffeeküche, Reis mit Salz und Olivenöl, mehr ist nicht da. Zuhause warten seine Katzen auf ihn, Lana und Jeffrey, mit ihnen spricht er schweizerdeutsch. «Es ist ein hartes, strenges Leben, aber ich hab’s gut.» Schläpfer bringt den Teller in die Küche, er will noch Hans van Manen anrufen, Choreografen-Freund und Vorbild, «wunderbarer Kerl», dann muss er Mails abarbeiten, und ping ping ping, meldet sein Handy neue Post.
Der Tag der Premiere startet mit Training. Im Studio riecht es nach Schweiss und abgestandener Luft. Schläpfer gibt allerletzte Korrekturen durch. Ihm geht es nicht um die Perfektion einer Bewegung, ihm geht es um die Intention dahinter. Mal ist es ein Gefühl, mal ein Bild, das er den Tänzern als Subtext mitgibt. «Man sieht jeden, jeder ist wichtig.» Bestenfalls Material für die Vision eines «Regiegotts» zu sein, hat ihn schon als Tänzer gestört.
Noch eine halbe Stunde bis zur Premiere. Das Düsseldorfer Opernhaus strahlt wie ein Ruhepol zwischen dem Shoppingwahnsinn auf der Kö und dem Feierwahnsinn an der «längsten Theke der Welt», der Trinkmeile in der Altstadt. Martin Schläpfer ist hinter der Bühne bei seiner Compagnie. Es ist für ihn die Zeit, «wo man innerlich sich mit dem Stück und allen, die drin sind, verbindet». Der Abschied beginnt.
Das Licht im Zuschauerraum geht aus, Schläpfer schiebt sich in die letzte Reihe. Jetzt kann er nicht mehr eingreifen, nur zuschauen. Auf der Bühne entfaltet seine Compagnie zu Schostakowitschs Cellokonzert Nr.2 eine Abschiedspoesie. Figuren verharren, wie wenn sie die Nähe noch einmal auskosten wollen, doch es ist schon vorbei, sie fassen nach dem Glück und können es nicht halten. Wie Ertrinkende seufzen sie auf, suchen Halt. Eine Choreografie wie eine einzige grosse Frage: Wohin?
Auf der Premierenfeier im Foyer ein gelöster Martin Schläpfer, gerötete Wangen. Es gibt frischgezapftes Altbier und warme Worte vom Intendanten. Martin Schläpfer nimmt Glückwünsche entgegen, lacht, bekommt eine Rose. Compagnie und Publikum feiern noch, da setzt er seinen Rucksack auf. Bewegung tut gut, er muss los. When it’s time to go, it’s time to go.