Fernsehkritik
Der neue Tatort verhandelt die Frage: Lustiger Firmenfeier-Sex oder Vergewaltigung?

Zweimal «Tatort» zum neuen Jahr. Stuttgart wagt sich mit der Schweizer Star-Schauspielerin Ursina Lardi an nicht einvernehmlichen Sex und Dortmund spinnt die privaten Storys seiner Kommissare weiter.

Susanne Holz
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Tatort «Videobeweis»: Kim Tramell (Ursina Lardi) ist nach der Weihnachtsfeier noch mit Oliver Jansen (Oliver Wnuk) in sein Büro gegangen. Ein letzter Drink. Und dann?

Tatort «Videobeweis»: Kim Tramell (Ursina Lardi) ist nach der Weihnachtsfeier noch mit Oliver Jansen (Oliver Wnuk) in sein Büro gegangen. Ein letzter Drink. Und dann?

SWR/Benoît Linder

Die Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi ist bekannt für ihren kühlen und geheimnisvollen Charme. Im «Tatort» aus Stuttgart am 1. Januar hat sie 90 Minuten Zeit, die Femme fatale zu spielen. Oder das Vergewaltigungsopfer? Um genau diesen Zwiespalt dreht sich die Folge «Videobeweis», die sich der Frage widmet, wann aus Sex eine Vergewaltigung wird.

Sendetermin

«Tatort» aus Stuttgart: «Videobeweis», Samstag, 1. Januar 2022, SRF 2, 20.05 Uhr.

Flirtlustig und cool: Gleich in der Einstiegsszene überzeugt Schauspielerin Lardi mit einer Performance, die die wahren Gefühle und möglichen Absichten ihrer Figur in einen Schleier aufreizender Smartness hüllt. Das Setting: die Weihnachtsfeier eines Versicherungskonzerns. Lardi spielt eine Mathematikerin, die mit dem späteren Mordopfer um eine Beförderung konkurriert. Flirtet sie aus Berechnung mit dem Chef? Oder flirtet sie mit ihm, weil gefeiert wird und der Chef mit ihr flirten will?

«Vielleicht ein kleiner Gutenachtkuss?»

Die grosse Stärke dieser Folge liegt darin, aufzuzeigen, dass es beim Flirten wie beim Sex oftmals kein Schwarz und Weiss, keine Eindeutigkeit gibt. Zu kompliziert sind wir Menschen. Klar wird jedoch: Sex ist nicht mehr einvernehmlich, sobald die eine Seite abbrechen will, egal, zu welchem Zeitpunkt. Ob vorher geflirtet wurde, was das Zeug hält, tut nichts zur Sache. So startet Mathematikerin Kim (Ursina Lardi) gegen Ende der Weihnachtsfeier mit dem augenzwinkernden Satz «Jetzt, wo der Chef bedient, nehm’ ich auch noch einen Absacker» in ihr Verderben. Hierauf der Chef, in Feierstimmung: «Und jetzt?» Die Angestellte: «Meine Strassenbahn… Ich hab’ den Mantel noch oben…» Man fährt gemeinsam im Lift ein paar Stockwerke höher. Oben angekommen, die Angestellte mit provokantem Unterton: «Um was verhandeln wir jetzt?» Der Chef: «Vielleicht um einen kleinen Gutenachtkuss?»

Eine starke Szene zu Beginn und ein Intro zu einem Krimi, der rundum stark bleibt, in Story (Buch: Rudi Gaul und Katharina Adler), Erzählweise (Regie: Rudi Gaul), Schauspiel. Der Liebesakt – oder die Vergewaltigung – wird im Film gefilmt. Der um die Beförderung konkurrierende Kollege kehrt zufällig zur Feier zurück, weil er sein Handy vergessen hat. Wenig später ist er tot. Den Kommissaren Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare) stellt sich sodann nicht nur die Frage der möglichen Vergewaltigung, sondern auch die nach dem Mörder: Wen wollte der Tote zuvor mit seinem Video erpressen – den Chef oder die Konkurrentin?

Nein heisst Nein, oder doch Ja heisst Ja

Was den grundsätzlichen Unterschied von einvernehmlichem Sex und Vergewaltigung betrifft, so erklärt Lorenz Imbach, Psychotherapeut beim Institut für Forensische Psychologie Zentralschweiz: «Juristisch ist es schwierig, von einer Vergewaltigung zu sprechen, wenn kein verbales oder körperliches Nein vorliegt. Bei einer Konstellation Chef und Angestellte, die sich nicht eindeutig wehrt, weil sie keinen Ärger mit dem Vorgesetzten will, ist eine gefühlte Vergewaltigung gegeben. Für das Opfer, das sich nicht gewehrt hat, sind die psychischen Folgen oft noch schlimmer, gerade wenn im Vorfeld geflirtet wurde. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein: Auch wenn zuvor geflirtet wurde, hat jeder jederzeit das Recht, den Akt abzubrechen und Nein zu sagen. Angemessener Sex zeichnet sich durch ständige positive Wechselwirkung und ständiges Einvernehmen aus.»

Sendetermin

«Tatort» aus Dortmund: «Gier und Angst», Sonntag, 2. Januar 2022, SRF 1, 20.05 Uhr.

Ebenfalls sehr spannend, aber mit weniger Fokussierung ist die Folge aus Dortmund am Folgetag geraten: «Gier und Angst» ist sie betitelt. Es geht ums grosse Geld, um die Machenschaften von Banken und Investmentfirmen, aber auch um Liebe und um Sucht.

Dortmunder Tatort: Kommissar Jan Pawlak (Rick Okon) trifft in einem Nachtclub zufällig seine drogenabhängige Frau Ella (Anke Retzlaff).

Dortmunder Tatort: Kommissar Jan Pawlak (Rick Okon) trifft in einem Nachtclub zufällig seine drogenabhängige Frau Ella (Anke Retzlaff).

Bild: WDR/Elliot Kreyenberg

Kommissarin Bönisch (Anna Schudt) wimmelt einen verletzten Ex ab, und Kommissar Jan Pawlak (Rick Okon) spürt seine drogensüchtige und seit einem Jahr verschwundene Ehefrau auf. Das alles ist dicht und klug erzählt – leichte Neujahrskost war ja aus Dortmund auch gar nicht zu erwarten.