Szczepan Twardoch lokalisiert seinen hochspannenden Roman «Der Boxer» in den Dreissigerjahren in Polen. Das Personal und Spielorte sind fiktiv und doch voll von geschichtlichen Anspielungen.
Erika Achermann
Jakub Shapiro ist ein bewunderter Boxer. Ein prächtiges Mannsbild, muskulös, charmant, elegant gekleidet. Die Frauen lieben ihn, und er liebt die Frauen. Nicht geliebt wird er von den orthodoxen Juden und von den Antisemiten. Denn Shapiro ist nicht nur ein reich gewordener Boxer. Er ist Jude und führt ein geheimes Leben: Er ist im Auftrag des Unterweltpaten Kaplica tätig. Gleich zu Beginn des Romans ist man schockiert über die grausige Brutalität seines Mordes an einem kleinen jüdischen Händler, der kein Schmiergeld zahlen kann. Der Tote ist Naum Bernstein.
Bernsteins Sohn Mojsche wird von Shapiro unter die Fittiche genommen. Denn Shapiro ist bewundertes väterliches Vorbild für den 17-jährigen Mojsche. Der junge Bernstein wird ebenfalls Boxer – und zugleich zum Beobachter der polnischen Unterwelt wie des zunehmenden Antisemitismus. Er ist stolz auf Shapiro, wird aber von den Bildern des gelynchten Vaters gequält und von den Gedanken an seine Mutter und den Bruder, die er nie mehr sehen wird.
Da fragt man sich irritiert: Gibt es antisemitische Ansätze in Twardochs Roman? Nein, obwohl Twardoch mit einigen literarischen Tabus bricht. Der Boxer Shapiro kämpft nämlich genauso energisch wie im Auftrag des Paten auch gegen Verräter und Antisemiten, von denen es in den Dreissigerjahren in Warschau viele gab. Polen hat eine lange Tradition des Antisemitismus. Eines der grössten Gettos weltweit war jenes von Warschau. Jüdische Studenten mussten in den Hörsälen auf separaten Plätzen sitzen (Sitzbankgetto), es kam zu antijüdischen Tumulten, die jüdische Bevölkerung Polens wurde schon vor dem Holocaust zur Emigration nach Palästina gedrängt.
Die Romanfigur Oberst Koc fordert: «Polen braucht keine politischen Parteien, Polen braucht Einheit.» Und man denkt unweigerlich ans heutige Polen mit seiner nationalkonservativen Einheitspartei PiS und deren Widerstand, Fremde zu integrieren.
Diesen Hintergrund zu kennen, bereichert das Verständnis für den Roman «Der Boxer». Szczepan Twardoch, 1979 geboren, hat bereits mit zwei herausragenden Werken in Polen Furore gemacht: mit «Morphin» und mit «Drach». Der Originaltitel für den «Boxer» ist «Krol», was so viel heisst wie König. Shapiro wird als Nachfolger des Unterweltkönigs Kaplica zwei Jahre der «König von Warschau» sein, nachdem Kaplica im Lager Bereza Kruzka im Osten Polens nach seinen misslungenen Putschplänen gegen die Regierung zu Tode gequält wurde.
Über Warschau lässt Twardoch eine düstere Wolke auftauchen, dargestellt als grauen Pottwal, der die Katastrophe ankündigt. Die polnische und die jüdische sind zwei sich fremde Welten, die nach 1939 gemeinsam in die Dunkelheit abstürzen werden. Twardoch spielt literarisch mit verschiedenen Ebenen des Erzählens, zieht hinein in diese beklemmende Welt. Shapiro und Bernstein verschmelzen für Momente, man kann nicht mehr erkennen, wer von ihnen nach Palästina ausgewandert ist und wessen Blick zurück die Geschichte erzählt. Twardoch gibt mit seinen Figuren einen spannenden Einblick in die Leidenschaft des Verbrechens, der Prostitution, aber auch der Liebe in einer unheilen Welt.
Szczepan Twardoch liest am 8. Februar im Literaturhaus Zürich, moderiert von Olaf Kühl, der den Roman aus dem Polnischen übersetzt hat.