Er hätte nie woanders leben können und mögen – ein Parisbesuch beim Schweizer Schriftsteller Paul Nizon. Soeben ist sein neues Buch «Sehblitz – Almanach der modernen Kunst» erschienen.
Peter Henning
Das erste Mal in Paris besucht habe ich ihn 1988. Ich war damals noch Student – und hatte eben seine Bücher entdeckt, allem voran seinen «Canto» und «Das Jahr der Liebe». Damals lebte er noch im ersten Bezirk der Stadt, in der Rue St. Honoré. «Im Herzen der Schönheit», wie Paul Nizon im Rückblick wehmütig erklärt. Inzwischen ist er im 14. zu Hause, wie die Pariser ihre Bezirke abkürzend nennen, in der Rue Campagne Premiere. Die Strasse diente in früheren Zeiten Künstlergrössen wie Marcel Duchamp, Tristan Tzara, Francis Picabia oder Man Ray als Wohnadresse und Zufluchtsstätte. Jean-Luc Godard drehte 1960 die Schlussszene seines Nouvelle Vague-Klassikers «Ausser Atem» dort.
Das alte Postgebäude, durch dessen hohen Eingang es hinüber zu dem von Platanen dominierten Hinterhof-Inselchen geht, an dessen Rand Nizon ein wahrhaft winziges Erdgeschoss-Studio bewohnt, ist seit meinem letzten Besuch vor einem Jahr dem Abrissbagger zum Opfer gefallen. Nun umgibt die Brache ein hohes Metallgittertor, und keine zwei Minuten später öffnet sich die verschrammte Holztür seiner Wohnung – und er bittet mich herein. An den mir längst vertrauten Wänden die Bilder ehemaliger Schweizer Künstlerfreunde wie Friedrich Kuhn oder Otto Müller, und aus dem Lautsprecher seiner kleinen CD-Anlage erklingt gedämpft Ornella Vanonis 60er-Jahre-Hit «L’Appuntamento».
Inzwischen ist er seit fast vierzig Jahren in Paris zu Hause, wo er Kultstatus geniesst. Für Frédéric Beigbeder ist der 1929 geborene Berner schlichtweg «einer der bedeutendsten lebenden Autoren unserer Zeit». Im deutschsprachigen Raum dagegen gilt Nizon, der sich mit Büchern wie «Stolz» (1975), «Das Jahr der Liebe» (1981) oder «Im Bauch des Wals» (1989) europaweit Ansehen und bedeutende Literaturpreis erschrieb, noch immer als Geheimtipp: als Autor für Autoren.
«Ich bin ein berühmter, erfolgloser Autor!», antwortet er wenig später beim Espresso auf die Frage, wie er seinen Status beschreiben würde. Tatsächlich blieben seine Werke stets einem überschaubaren Kreis vorbehalten. «Wahrscheinlich, weil ich Geschichten, wie das grosse Publikum sie liebt, nicht zu bieten habe. Denn ich habe nie geglaubt, dass die Wirklichkeit sich in Geschichten abfüllen lässt. Darum kam ich auch zur Kunstkritik, die ich als schriftstellerisches Übungsfeld betrachtete, weil sie mir anschaulich vor Augen führte, dass die Wirklichkeit in ihrer Darstellung unzugänglich geworden war. Das deckte sich vollkommen mit meiner Sicht.»
Seit mehr als sieben Jahren schreibt Nizon an einem Roman, der den Titel «Der Nagel im Kopf» trägt – ein Buch, das noch einmal die kardinalen Themen seines (Schreib-) Lebens versammelt. Ob er es aber je beenden wird, das steht in den Sternen. Früher stiess er seine Bücher in eigens dafür angemieteten Studios hervor. Inzwischen arbeitet er, der Leben und Schreiben stets strikt voneinander zu trennen pflegte, an dem Schreibtisch in seinem kleinen, von deckenhohen Buchregalen dominierten Schlafzimmer. Mitten darauf die alte Vorkriegsmaschine, auf welcher er bis heute an seinem Journal schreibt. Er begreift dieses fortgesetzte Notieren als das Erstellen einer Lebensmitschrift – und das tägliche Meditieren darüber als reinste, unverfälschte Selbstbegegnung. Ich schreibe, also bin ich! – dieses cartesianische, leicht modifizierte Credo gilt für ihn bis heute.
Wiederholt hat man ihm seine Ich-Bezogenheit vorgeworfen, und es stimmt: seine Bücher sind autobiografisch durchwirkt, dem eigenen Leben abgerungen. Doch wer die lebenstrunkenen Romane Juan Carlos Onettis oder die mexikanischen Delirien eines Malcolm Lowry ebenso mag wie die schwebenden Paris-Etüden eines Patrik Modiano, der müsste Nizon eigentlich lieben. Gleichwohl steht Nizon in Zeiten von Google und Facebook für eine Literatur, die aus einer anderen Zeit zu kommen scheint. Alles in seinen vier Wänden vermittelt diesen Eindruck.
Unter dem Titel «Sehblitz – Almanach der modernen Kunst» sind nun seine frühen, Anfang der Fünfzigerjahre unter anderem für die NZZ geschriebenen kunstkritischen Texte erschienen. Wer sie liest, begegnet schon darin jenem unverwechselbaren, süchtig-machenden Nizon-Ton, für den man später seine Romane pries. «Wahrscheinlich, weil ich meine kunstkritischen Texte immer aus einer literarischen Haltung heraus schrieb. In der Kunstkritik wurzelt meine Schriftstellerei», sagt er und nippt an seinem Rotweinglas. «Denn was mich daran interessierte, war das Problem der Abbildbarkeit von Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist eine reine Bewusstseinsangelegenheit. Von dieser Grundannahme gehen all meine Bücher aus. Und wohl auch die Künstler, die ich anhand ihrer Werke in diesem Buch porträtiere.» Denn ob Nizon über Kasimir Malewitsch, Mark Rothko oder Jackson Pollock schreibt, sein Anspruch «war immer, darüber dem Geheimnis der Wirklichkeit ein Stückchen näher zu kommen». Es sind Meditationen übers Lebendig-Werden etwa der Landschaften van Goghs oder die Selbsterschaffung Jackson Pollocks auf der Leinwand. Doch indem Nizon über die Arbeiten anderer meditiert, meditiert er stets auch über das eigene Sein. So erweist sich sein Schreiben auch hier als Suche nach Eigenem im Fremden – als immer währender Gedanken- und Wahrnehmungs-Abgleich. «Denn all die von mir beschriebenen Arbeiten bestätigten mich in meiner Annahme, dass die Wirklichkeit lediglich ein Produkt unserer Vorstellung ist.»
Fast vierzig Jahre lang hat er, der sich selbst in Anlehnung an Alberto Giacomettis gleichnamige Plastik als «Marschierer» bezeichnet, sein Paris durchwandert; inzwischen aber geht er keinen Schritt mehr ohne seinen Gehstock aus dem Haus – die oft stundenlangen Exkursionen an die entlegensten Plätze der Stadt sind Geschichte.
Er hat den Wandel der Stadt über vier Dekaden hinweg aus nächster Nähe erlebt und beobachtet, hat diverse Regierungen kommen und gehen sehen – und seine Liebe zu dem dort herrschenden Lebensgefühl darüber derart vertieft, dass er heute sagt: «Ich hätte nie woanders leben können und mögen. Und wenn es einen Paris-Pass gäbe, so nähme ich ihn gern!» So wird er, der inzwischen 87-jährige «Berner Bär», als welchen Peter Handke ihn einst liebevoll bezeichnete, weiterschreiben, in seinem engen Geviert an der Rue Campagne Premier. Langsam, in kleinen Dosen. Und gewiss nicht mehr mit dem drängenden Furor des 24-jährigen literarischen Gipfelstürmers, der sich Anfang der 50er-Jahre als Verfasser ambitionierter Kunstkritiken daran machte, seine Schriftstellerexistenz auszubilden; wohl aber mit der Gelassenheit eines Dichters, der noch immer «am Schreiben durchs Leben geht, jenem Krückstock, ohne den ich glatt vertaumeln würde».