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Kultur
Die Musikerin Rosmarie Reinhardt engagiert sich von Waldstatt aus für ihre zweite Heimat Ramallah.
Kinderzeichnungen hängen im Gästezimmer des heimeligen Appenzellerhauses, in das Rosmarie Reinhardt vor Jahren zurückgekehrt ist. «Als junge Frau war ich schon einmal hier», erzählt sie auf dem Weg vom Bahnhof Waldstatt durchs Dorf, «damals dachte ich, das sei ein schöner Ort, um alt zu werden.» Erst aber musste die in Basel geborene Kirchenmusikerin hinaus in die Welt, in ein bewegtes Leben. Nicht zuletzt, um den Kindern zu begegnen, deren Zeichnungen nun ihre Wohnung schmücken, deren Gedichte und Fotos sie liebevoll aufbewahrt.
Es sind keine Wald- und Wiesenbilder mit Blumen, Eichhörnchen oder Schneemännern. Eines zeigt die Mauer in Ramallah, graffitibesprüht, gesichert mit Stacheldraht, davor ein Jeep und spielende Kinder: Alltag auf dem Weg zur evangelischen Schule mitten im Konfliktgebiet zwischen Israel und dem Westjordanland. Hier fand Rosmarie Reinhardt in den 1970er-Jahren eine zweite Heimat; bis heute ist sie ihr treu geblieben. Insgesamt zwölf Jahre lebte und arbeitete die Kirchenmusikerin als Lehrerin in Ramallah.
Aufgewachsen ist sie mit vielen Geschwistern als Tochter eines Verlegerpaars in Basel. Musik, Bücher, Bildung, Naturerlebnisse, ein weltoffener Glaube weckten bei Rosmarie Reinhard früh den Wunsch, sich für Menschen einzusetzen, «denen es nicht so gut geht». Zunächst lernte sie Sprachen, arbeitete als Lehrerin in England, dann wäre sie gern nach Vietnam gegangen. Das aber war damals zu gefährlich. Zwischen Israel und Palästina dagegen gab es zwar viele Probleme, aber noch keine Mauer, man konnte frei reisen. «Vom Dach der Schule aus sieht man Jerusalem, das nahe Meer. Doch beides ist heute unerreichbar.»
Mag es in Waldstatt schön und idyllisch sein: Nach dem kalten Appenzeller Winter, nach Orgeldiensten mit klammen Fingern in den Kirchen der umliegenden Dörfer bekommt die agile Musikerin Heimweh. Noch immer reist die inzwischen 77-Jährige regelmässig über Ostern zu ihrer grossen «Familie» aus Schülern, Kollegen und Ehemaligen. Sie feiert mit Freunden die Karwoche und das Osterfest, fühlt den Lehrerinnen und Lehrern der Schule – darunter auch viele Muslime – den Puls, berichtet den Gönnern in der Schweiz.
«Man muss oft hartnäckig nachfragen, denn die Leute in Ramallah sprechen nicht gern über Sorgen. Sie erzählen nur das Positive», sagt sie. Es sei Teil ihrer Kultur, nicht zu klagen. In den westlichen Ländern werde der Nahostkonflikt kaum mehr wahrgenommen. Dabei, so Rosmarie Reinhardt, habe sich die Situation immer mehr zugespitzt.
«Die Menschen haben die Hoffnung aufgegeben; viele Familien verbinden mit einer guten Schulbildung vor allem die Perspektive, dass ihre Kinder anderswo ihr Glück machen können.»
Das ist nicht das, wofür sie sich leidenschaftlich engagiert hat. Sie leitete den Schulchor, sammelte mit dem Kassettenrekorder Lieder aus der Region und schrieb sie auf. Vieles, was zuvor nur mündlich tradiert worden war, wäre sonst wohl in Vergessenheit geraten. Nun gehört ihre Liedersammlung zum täglich genutzten Lehrmittelbestand der Schule. «Die Kinder fragten manchmal: Warum lernen wir Lieder? Ich sagte dann, das sei, um ihnen einen Rucksack für die Zukunft zu packen. Wenn sie später etwas daraus hervorzögen, würden sie merken, dass noch viel mehr darin steckt.»
Wie im Orchesterprojekt des Dirigenten Daniel Barenboim mit Musikern aus Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten konnten die Kinder erleben, dass Musik verbindet und Konflikte entschärfen kann. Ihr Proviant fürs Leben ist der Mehrwert an Beziehungen und friedlicher Gemeinschaft – und die dabei wachsende Bereitschaft, füreinander einzustehen.