LEBENSKUNST: Der Satz meines Lebens

Es gibt Sätze im Leben, die man nie mehr vergisst. Sätze, die einen wunden Punkt treffen oder direkt ins Herz. Sieben Schweizer Persönlichkeiten erzählen, welches Mantra in ihrem Leben eine ganz besondere Rolle spielt.

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Gülsha Adilji, Journalistin und Kabarettistin (Bild: Urs Bucher)

Gülsha Adilji, Journalistin und Kabarettistin (Bild: Urs Bucher)

Gülsha Adilji, Journalistin und Kabarettistin (Bild: Urs Bucher)

Gülsha Adilji, Journalistin und Kabarettistin (Bild: Urs Bucher)

«Nichts ist peinlich, ausser Lügen und Stehlen.»


Ein Satz, den meine Mutter uns immer wieder wie ein Mantra vorbetete – wenn sie uns im Laden die falschesten Schuhe anprobieren liess (Victory), wenn sie uns von der Schule abholte (why, mother, why, und dann noch in dieser schlimmen Lederjacke) oder als uns das Gefühl beschlich, dass in Zuckersirup getränkte Baklava nicht das Richtige für den Kuchenverkauf sei. Mit hartnäckiger Wiederholung trieb sie ihren drei Töchtern das konstruierte Peinlichkeitsgefühl aus. Ohne lang zu analysieren und zu erklären, dass Peinlichkeit und falsche Scham ein hemmender Klotz für jede kreative Entwicklung oder ein Gefängnis für einen freien und gesunden Geist sei, antwortete sie auf unser «Das isch voooll peinloch» nur: «Peinlich ist nur Lügen und Stehlen.»

Irgendwann wurde es nicht nur wahr, sondern interessanterweise auch ein Grund, weshalb ich vor der Kamera stehe oder mutig alles ausprobiere. Meine Mutter hat mir mit einem Satz so viele Ängste genommen und Schwellen erst gar nicht entstehen lassen. Ich denke, es ist an der Zeit, mir diesen Spruch zwischen die Schultern zu tätowieren. In Arabisch vielleicht! Oder Klingonisch?! Weil nichts ist peinlich, noch nicht mal solche Tattoos.


Reto Knutti, Klimaforscher (Bild: Valerie Chetelat)

Reto Knutti, Klimaforscher (Bild: Valerie Chetelat)

«Ich wünsch

e dir alles Gute. Dafür sorgen musst du aber selber.»


Wir wünschen Freunden nur das Beste. Aber kümmert es uns, ob sie das Beste auch finden? Schenken wir mehr als das, was wir mit zwei Klicks online bestellen können? Denken wir nicht in erster Linie an uns selber, auch im grösseren Kontext der Gesellschaft und der Welt? Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Artensterben: wir übernutzen unsere Welt, und es ist egal, solange es uns selber gut geht. Die Gründe für das kurzfristige egoistische Denken und die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln sind bekannt, aber eine Entschuldigung sind sie nicht. Haben wir nicht eine Verantwortung, als Gesellschaft gemeinsam die Zukunft so zu gestalten, dass es allen besser geht, auch der nächsten Generation? Und zwar nicht nur auf dem Bankkonto, weil Werte wie Respekt oder eine intakte Natur kann man nicht kaufen, man muss dafür sorgen.

Als Wissenschafter können wir Gefahren aufzeigen, Lösungen vorschlagen, eine Karte von möglichen Wegen zeichnen. Entscheiden, welchen Weg wir gehen, und handeln müssen wir aber gemeinsam. Die Zeit drängt, die Herausforderungen sind gross, aber es liegt an uns, sie anzupacken. Sie auf die anderen oder die nächste Generation abzuschieben, ist verantwortungslos. Tönt wie ein Neujahrsvorsatz, aber bitte nicht einer, den wir übermorgen über Bord werfen. In diesem Sinne: alles Gute für eine gemeinsame Zukunft!


Milena Moser, Schriftstellerin (Bild: Nina Wright)

Milena Moser, Schriftstellerin (Bild: Nina Wright)

«Jede wichtige Entscheidung wird mit 49 zu 51 Prozent getroffen, nicht 99 zu 1.»


Meine Mutter sagt das immer. Dieser Satz hat mir oft geholfen. Zu zweifeln, sich zu hinterfragen, vielleicht sogar Wehmut zu empfinden bedeutet nicht, dass eine Entscheidung falsch war. Nur wichtig.







Michel Gammenthaler, Kabarettist (Bild: Mirco Rederlechner)

Michel Gammenthaler, Kabarettist (Bild: Mirco Rederlechner)

«Entscheidungen soll man innerhalb von sieben Atemzügen treffen.»


Vor bald zwanzig Jahren sass ich im Kino und schaute mir den wunderbaren Film «Ghostdog» des Regisseurs Jim Jarmusch an. Forest Whitaker verkörpert darin einen afroamerikanischen Mafia-Auftragskiller, der streng nach dem über 300 Jahre alten Ehrenkodex «Hagakure» der japanischen Samurai lebt. Dieses Buch wird im Film mehrfach zitiert und eines jener Zitate begleitet mich seither: «Nicht länger als sieben Atemzüge soll es dauern, bis man eine Entscheidung getroffen hat.»

Natürlich zähle ich beim Entscheiden keine Atemzüge, aber ich entscheide mich fast immer schnell. Weil ich auch der Überzeugung bin, dass man oft ganz genau weiss, welche Entscheidung die Richtige wäre. Nur traut man sich nicht, es auszusprechen. Weil man Angst vor dem eigenen Mut hat, weil man erwartet, dass man auf Widerstand stösst oder dass man später herausfindet, dass es noch etwas Besseres gegeben hätte. Das Resultat: Stillstand.

Ich argumentiere gerne, dass es bei den allermeisten Entscheidungen nicht um lebensbedrohliche Veränderungen geht. Trotzdem verhalten sich manche Menschen beim Aussuchen eines neuen Farbtons für ihre Wohnzimmerwände, als ob es um die Entschärfung einer Bombe oder um eine Herztransplantation gehen würde. Quatsch! Entscheiden, entspannen und weitermachen. Das Leben wird so viel einfacher!



Thomas Meyer, Schriftsteller (Bild: PD)

Thomas Meyer, Schriftsteller (Bild: PD)

«Auch das geht vorbei.»


Angeblich trug Salomo, der König von Israel, einen Ring, auf dem dieser Satz eingraviert war. Ihn zu lesen, half ihm, wenn ihn etwas bedrückte, aber auch, wenn er einer Sache zu viel Bedeutung beimass. Es ist ein Satz, der einen davor bewahrt, allzu missmutig und allzu übermütig werden zu lassen, weswegen ich mir auch einen Ring damit habe anfertigen lassen. Und tatsächlich, auch bei mir wirkt es, ihn zu tragen.




Sandra Boner, SRF-Wetterfee (Bild: Oscar Alessio)

Sandra Boner, SRF-Wetterfee (Bild: Oscar Alessio)

«Schön süferli eis nach em angere, mit eme

Lache im Gsicht und wenn’s de wichtig isch, de chlopf i ou grä

n mou uf e Tisch.»


Es ist mein Mantra, oft gehört von meiner Mutter. Schön süferli eis nach em angere, das musste ich mir auch dieses Jahr immer wieder sagen, wie gerne würde ich mehrere Dinge gleichzeitig auf einmal erledigen, das sollen ja bekanntlich Frauen können – bei mir Fehlanzeige, ich bin der lebende Beweis, dass dies nicht für alle gilt. Sobald ich, husch husch, das und jenes noch gleichzeitig erledigen will, klappt sicher gar nichts mehr. Lieber Schritt für Schritt, Hauptsache, die Richtung stimmt, vorwärts soll es gehen. De chlopf i ou grän mou uf e Tisch, es braucht ziemlich viel, bis ich richtig böse oder laut werde, gerne lasse ich den Fünfer gerade sein und lasse die Menschen um mich herum ihr Leben leben, aber die Faust im Sack machen geht gar nicht.

Ich stehe für meine Werte ein. Ich spreche gerne Klartext und das am liebsten von Auge zu Auge, nicht per SMS oder E-Mail. Mit eme Lache im Gsicht, meinen Kindern setze ich gerne Grenzen, stelle Leitplanken auf, dazwischen sollen sie sich frei bewegen und entfalten können. Schlamm von oben bis unten, schmutzige Ohren, zerzauste Haare, Dreck unter den Fingernägeln, das ist alles kein Problem. Solange ihre Augen leuchten, ihr Herz für Gerechtigkeit schlägt und solange wir zusammen sein können, kommt alles gut – sehr gut sogar.


Gion Mathias Cavelty, Schriftsteller (Bild: Paolo Dutto)

Gion Mathias Cavelty, Schriftsteller (Bild: Paolo Dutto)

«Ich mache aus meinem Leben kein Melodrama.»


Als junger Autor im Suhrkamp-Verlag nahm ich im Jahr 2002 an der Beerdigung des Verlegers Siegfried Unseld teil. Es war wie in einem Stück von Shakespeare: Die Witwe und der Sohn standen nebeneinander am offenen Grab, starr, ohne sich eines Blickes zu würdigen, zwischen ihnen in fast schon greifbarer Form der pure Hass, allen Anwesenden fror es bei dem Schauspiel. In diesem Moment fasste ich mein Lebensmotto: Ich will in meinem Leben kein Melodrama haben!