Segantinis Werk wird im Kunstmuseum St. Gallen zum ersten Mal zeitgenössischer Kunst gegenübergestellt.
Die Schafhirtin blickt in die Ferne, die Hand als Schattenspender am breitkrempigen Hut. Sie steht in der gleissenden Mittagssonne, im Hintergrund eine schneebedeckte Bergkette. Strich um Strich reiner Farbe hat Giovanni Segantini für den leuchtend blauen Sommerhimmel aneinandergesetzt.
«Mezzogiorno sulle alpi» ist eines der ikonischen und oft reproduzierten Segantini-Werke aus der Sammlung Otto Fischbachers, die im Oberlichtsaal des Kunstmuseums St. Gallen in klassischer Hängung vereint sind. Ein Grund zur Freude, denn zuletzt war die zentrale Werkgruppe der Otto-Fischbacher-Giovanni-Segantini-Stiftung vor zwanzig Jahren im Kunstmuseum zu sehen.
Der Sitz der Stiftung ist zwar seit deren Gründung 1978 in St. Gallen, die Werke befinden sich aber normalerweise als Dauerleihgabe im Segantini-Museum in St. Moritz. Die dortigen Umbauarbeiten machten die Ausstellung überhaupt möglich – eine teure Angelegenheit – unter anderem, weil für den Transport spezielle Klimaboxen nötig waren. Dreimal höher als für eine durchschnittliche Schau sind deshalb die Kosten.
Anlass für die Ausstellung ist das 200-Jahr-Jubiläum der Firma Christian Fischbacher. Das St. Galler Textilunternehmen war von Otto Fischbachers Grossvater gegründet worden. Er selbst war ein leidenschaftlicher Alpinist, die Liebe zu den Bergen verband ihn mit Giovanni Segantini, von welchem er den wichtigsten und grössten Bestand aus seiner Savogniner Zeit besass.
Die Kuratoren der Ausstellung, Roland Wäspe und Lorenzo Benedetti, verlassen sich in der Ausstellung «La luce alpina» jedoch nicht einfach auf die Anziehungskraft von Segantinis Gemälden, sondern überprüfen sein Werk auf seine Relevanz für die zeitgenössische Kunst. Seine Darstellung des Lichts, der Berge und der Natur bilden die Bezugspunkte dafür – ein gelungener Ansatz, der einen frischen Blick auf Segantini erlaubt.
Siegrun Appelts Lieblingsgemälde von Segantini ist «Ritorno dal bosco»: Ein eisig-kalter Wintertag geht zu Ende. Eine Frau zieht einen mit Holz beladenen Schlitten über eine schneebedeckte Ebene Richtung Savognin, die hell erleuchteten Fenster künden von etwas Wärme.
Das spärliche Licht der untergehenden Sonne, die hinter den Bergen leuchtet, ist auch in Appelts Schaffen von zentraler Bedeutung. Schon länger beschäftigt sie sich mit der Lichtverschmutzung der Landschaft. Die Fotoserie «Slow Light» , die 2018 im Engadin entstand, zeigt dies eindrücklich auf. Etwa wenn der Hang am Julierpass in finsterer Nacht von den Scheinwerfern eines Pistenfahrzeugs beleuchtet wird.
Bei Patrick Rohner sind es die Berge, die ihn mit Segantini verbinden. Seine Steinzeichnungen entstehen, indem er Büttenpapier im Hochgebirge auf Holzplatten auslegt und mit einem Stein beschwert. Dann wartet er darauf, «dass der Stein mir Antwort gibt». 14 Monaten waren die Blätter Wind und Wetter ausgesetzt, die darauf ihre zarten Spuren hinterlassen haben.
Die über Jahrmillionen ablaufenden geologischen Veränderungen bildet der Künstler in seinem Schaffen auch ab, indem er bei seinen Wasserarbeiten über Monate Büttenpapier immer wieder in Farbbäder taucht und danach trocknen lässt. Die Farbsedimente, die sich darauf bilden, erinnern tatsächliche an eine zerklüftete Gebirgslandschaft.
Das intensive Licht der Alpen, das Segantini in seinen Gemälden so grossartig einfängt, bringt der Architekt und Künstler Philipp Rahm ganz direkt ins Museum. Dazu überzog er den Boden eines Ausstellungssaals mit weiss lackierten Pressspanplatten. Sie reflektieren das einfallende Tageslicht. Ausserdem wurde der Raum mit blau-weissen Neonröhren versehen. So wird das natürlich-gelbliche Licht St. Gallens ins Bläuliche verschoben, denn je höher die Lage eines Ortes, desto heller und blauer ist dort das Licht. Massstab dafür war St. Moritz, das auf 1800 Metern über Meer liegt.
Nicht das Licht, sondern die Engadiner Berge bringt Not Vital nach St. Gallen. Jene fünf Berge, die er von seinem Senter Atelier aus vor Augen hat, formte er aus Gips und Drahtgeflecht. Ihre Platzierung im Raum entspricht im Massstab ihrer Entfernung in der Landschaft. Nur, dass man sie im Museum entspannt und ohne Kletterausrüstung umrunden kann.
La luce alpina, Kunstmuseum St. Gallen, bis 1.12.