KUNSTHALLE: Brot, Kot, Kieselstein

Andrea Büttner interessiert sich für eine verhungerte Philosophin, den heiligen Franz von Assisi und schneidet tanzende Nonnen und schamhafte Bettlerinnen ins Holz. Ihre Werke sind in St. Gallen zu sehen.

Christina Genova
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Die Holzschnitte aus Andrea Büttners Zelt-Serie stehen für Kleinheit, Demut, Einfachheit und Zurückhaltung. (Bild: Benjamin Manser)

Die Holzschnitte aus Andrea Büttners Zelt-Serie stehen für Kleinheit, Demut, Einfachheit und Zurückhaltung. (Bild: Benjamin Manser)

Christina Genova

christina.genova@tagblatt.ch

Die französische Philosophin Simone Weil stirbt mitten im Zweiten Weltkrieg mit 34 Jahren im britischen Exil, weil sie sich aus Solidarität weigert, mehr zu essen als die Franzosen auf dem Festland. Franz von Assisi, geboren Ende des 13. Jahrhunderts, stammt aus einer reichen Tuchhändlerfamilie. Doch er zieht dem Leben in Wohlstand die ­Armut vor.

Mit Simone Weil und Franz von Assisi präsentiert Andrea Büttner in ihrer Einzelausstellung in der Kunsthalle St. Gallen zwei Menschen mit radikalen Lebensentwürfen. Diese sind Ausgangspunkt für die Suche nach den wahren Werten, einem sinnvollen Leben und der Rolle der Religion bei alldem.

Dem Leben und der Legende von Franz von Assisi hat Andrea Büttner einen ganzen Werk­zyklus gewidmet. Daraus sind in St. Gallen zwei Holzschnitte zu sehen. Einer zeigt einen Kieselstein, der ebenso einen Laib Brot darstellen könnte. Gemäss der Legende bettelte der Heilige ­anstatt um Brot um Steine. Kot, Brot, Stein – in der Kunst gehe es um «Prime Words», zitiert Büttner Marcel Duchamp.

Armut und Scham

Holzschnitte aus verschiedenen Serien bilden einen Schwerpunkt der St. Galler Ausstellung. «Ich begann mit der Herstellung von Holzschnitten, weil es das Uncoolste war, was ich tun konnte», sagte die 44-Jährige in einem Interview. Holzschnitte sind auch religiös konnotiert: Im ausgehenden Mittelalter dienten massenhaft verbreitete Einblattdrucke der persönlichen Andacht. Andrea Büttner spielt mit dieser Tradition: Nonnen wiegen sich im Tanz; verhüllte Bettlerinnen ­recken ihre Hände bittend dem Betrachter entgegen. Die Künstlerin zitiert damit eine Skulptur von Ernst Barlach: «Es ist das einzige Werk der Kunstgeschichte, das Scham und Armut zusammenfasst», sagt die Künstlerin. Simone Weil, deren Gedankengut sowohl sozialistisch als auch christlich-mythisch gefärbt ist, ist in Form einer Ausstellung in der Ausstellung präsent. Sie wurde von der Friedensbibliothek und dem Antikriegsmuseum der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg 1989/90 zu Zeiten der Wende konzipiert. Und wirkt in ihrer behäbigen Ästhetik wie aus der Zeit gefallen und noch viel uncooler als die Holzschnitte. Büttner fragt damit nach der Bedeutung der Präsentationsform für die Vermittlung von ­Inhalten, aber auch danach, was passiert, wenn eine für Kirchgemeindehäuser und Gemeindezentren entwickelte Ausstellung plötzlich im Kunstkontext gezeigt und auf gewisse Weise auch instrumentalisiert wird.

Entwurzelte verwurzeln

Auf einfachen Stellwänden sind Fotos und handgeschriebene Zitate aus Weils Werk angebracht, die zur «Einwurzelung» der damaligen DDR-Bürger beitragen sollten «in einer Zeit, in der für uns alles verschwand», wie ­Jochen Schmidt von der Friedensbibliothek sagt. Später, so Schmidt, hätte sich herausgestellt, dass die Entwurzelung nicht nur ein DDR-Thema ist, sodass die Weil-Ausstellung seither in ganz Deutschland und dem ­angrenzenden Ausland zu sehen war. Und tatsächlich sind manche der Zitate Weils von beklemmender Aktualität.

Andrea Büttners Schau wird ergänzt durch die Videoarbeit «You (People) Are All The Same» von David Raymond Conroy, in der es um moralische Fragen des Künstlerdaseins geht. Im Video versucht Conroy vergeblich, Obdachlose in Las Vegas dazu zu bringen, das Geld für seinen Atelieraufenthalt im Casino aufs Spiel zu setzen.

Kunsthalle St. Gallen, bis 7.5.