Die am Samstag eröffnete 13. Documenta in Kassel zeigt engagierte Kunst. Die weltweit wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst überzeugt durch Poesie und Neuentdeckungen aus aller Welt.
Eine leichte Brise weht im Erdgeschoss des Museums Fridericianum. Betritt man den Hauptveranstaltungsort der alle fünf Jahre stattfindenden Documenta, trifft man als erstes auf zwei fast leere Räume, in denen ein «Wind of Change» irritiert und die Wahrnehmung schärft. Erst meint man, es sei Zugluft, doch Schöpfer dieser subtilen Intervention ist der britische Künstler Ryan Gander. Dazu gesellt sich aus einem der Nebenräume ein Ausschnitt aus einem Songklassiker von Tammy Wynette. Mit samtener Stimme singt sie immer und immer wieder: «I'll just keep on/Til I get it right» – «Ich werde weitermachen, bis es gelingt». In dieser Soundarbeit der in Berlin und London lebenden Konzeptkünstlerin Ceal Floyer kommt die Mühsal der künstlerischen Bemühungen zum Ausdruck, die Welt zu erklären und zu verändern, aber auch die Hoffnung, dass diese Mühe schliesslich zum Erfolg führen wird.
Zusammen mit Ganders Arbeit ergibt sich die Grundstimmung einer optimistischen Skepsis, die für die künstlerische Haltung von Carolyn Christov-Bakargiev steht. Die Chefkuratorin der diesjährigen Documenta glaubt an das Veränderungspotenzial von Kunst und dies ist in der ganzen Ausstellung zu spüren.
In ihrer 13. Ausgabe erstreckt sie sich allein in Kassel über 10 Haupt- und 24 Nebenschauplätze. Das Begleitprogramm des Museums der hundert Tage füllt ein ganzes Buch. Darüber hinaus findet die Documenta auch in Afghanistan, Ägypten und Kanada statt. Die Unmöglichkeit, die Documenta als Ganzes zu erfassen und alle Werke und Veranstaltungsorte zu sehen, gehört zu Carolyn Christov-Bakargievs Konzept.
Zu den über 150 beteiligten Künstlern – so vielen wie noch nie – gesellen sich ausserdem zahlreiche Schriftstellerinnen, Wissenschaftler, Filmemacherinnen, Architekten und Komponisten. Die Botschaft Carolyn Christov-Bakargievs ist klar: Nur mit vereinten Kräften, wenn sich kluge Köpfe aus der ganzen Welt und aus allen Wissensgebieten zusammenschliessen und vernetzen, wird man den komplexen Problemen unserer Welt gerecht. Es ist ein erweiterter Kunstbegriff, von welchem die künstlerische Leiterin ausgeht und den sie folgendermassen charakterisiert: «Was diese Teilnehmer tun und was sie auf der Documenta <ausstellen>, mag Kunst sein oder nicht. Doch ihre Handlungen, Gesten, Gedanken und Kenntnisse erzeugen Verhältnisse und werden durch Verhältnisse hervorgebracht, die man als Kunst interpretieren kann.»
Die Documenta 13 ist ökologisch: Deshalb trifft man dort einen jungen Tüftler wie den US-Amerikaner Benjamin Friton, der mit seiner Stiftung «Can YA Love» erforscht, wie man in Gebieten, wo Landmangel herrscht, mit speziellen Kompostbehältern möglichst effizient Gemüse anbauen kann. Die Documenta 13 ist feministisch: Im Karlsaue Park steht ein Wüstenzelt, in welchem Frauen aus der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara Couscous kochen und gleichzeitig auf ihr Schicksal als Staatenlose aufmerksam machen.
Dass es einem ob all dieser Bestrebungen, die Welt zu verbessern, nicht zu viel wird, hat damit zu tun, dass sich Engagement, Poesie, Überraschung und Schönheit gegenseitig nicht ausschliessen. Da ist zum Beispiel die 1946 in Karachi geborene Künstlerin Nalini Malani, die mit ihrer faszinierenden Kombination von Video und Schattenspiel verzaubert und dabei gleichzeitig auf das schwierige Schicksal der Witwen in ihrem Land hinweist. Oder der chinesische Künstler Yan Lei, der ein Jahr lang jeden Tag ein Bild aus den Massenmedien ausgesucht und auf eine Leinwand übertragen hat. Damit unterbricht er das Muster des exzessiven Bilderkonsums und macht Platz für Reflexion und Erinnerung. Wunderbar poetisch und tieftraurig ist die Videoarbeit der in Kabul und New York lebenden jungen Künstlerin Mariam Ghani, die filmisch das Schicksal von zwei kriegszerstörten Gebäuden, des Fridericianums in Kassel und des Darulaman-Palasts in Kabul, verbindet.
Carolyn Christov-Bakargiev nutzt ihre Macht als Kuratorin und präsentiert eine ganz subjektive Auswahl an Werken, fern vom Mainstream und ohne jegliche Anbiederung an die Kriterien des Kunstmarkts. Die Documenta 13 öffnet Räume für Abstruses, Kompliziertes und Utopien und ermöglicht grundsätzliches Nachdenken über Kunst.
Documenta 13 in Kassel, bis 16.9.12