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Kultur
Die ländlichen Bauten der Schweiz sind Teil eines riesigen Forschungsprojekts, das Ende Jahr abgeschlossen ist. Glaube und Religion beeinflussten den Bau der Häuser ebenso wie das Aufkommen der Gebäudeversicherung.
«Sind Sie vom Heimatschutz oder von der Denkmalpflege?» Benno Furrer wurde bei seinen Feldrecherchen nicht immer mit offenen Armen empfangen. Als er an fremde Türen klopfte, um verheissungsvolle Bauernhäuser von innen zu sichten, war die Skepsis bei den Bewohnern manchmal gross. Was will der fremde Mann bei uns? Kann man den guten Gewissens hereinlassen?
Man kann. Der 65-jährige Urner ist alles andere als ein unangenehmer Zeitgenosse. Kein Beamter, der irgendwelche Auflagen macht oder Kontrollen vornimmt, sondern ein heimatliebender Forscher, der sich für das baukulturelle Erbe interessiert. Furrers Dialekt, sein bodenständiger Habitus und das notwendige Fingerspitzengefühl sorgten letztlich dafür, dass er Einblick in unzählige Häuser nehmen durfte. Furrer erinnert sich:
Einige Bewohner fühlten sich durchaus geehrt, dass sich jemand für ihr Haus und dessen Geschichte interessiert
Der Bauernhausforscher Benno Furrer schliesst ein Mammutprojekt ab, das 1948 begann und vom Schweizerischen Nationalfonds und den Kantonen finanziert wird. Initiiert hat es die Gesellschaft für Volkskunde. Als Leiter verantwortet es Furrer bereits seit 1989 – in dieser Zeit hat er unzählige Häuser begutachtet.
Der Forschungsinhalt erstreckt sich über die Entwicklungsgeschichte der ältesten Bauten aus dem 12. Jahrhundert bis zu den Bauten des 20. Jahrhunderts. Im Fokus steht nicht nur das Bauernhaus; zum Forschungsgegenstand gehören sämtliche dazugehörige Nebengebäude wie Remisen, Scheunen für Gross- und Kleinvieh, Schuppen, Speicher, Alpgebäude und so genannte Stöckli.
Architekten, Touristen, Ethnologen, Volkskundler waren schon immer vom Bauernhaus fasziniert. Woher rührt Furrers Begeisterung für ländliche Bauten? «Mich fasziniert das handwerkliche Können, das der Bau von Bauernhäusern seit dem 13. Jahrhundert voraussetzte», sagt Furrer. Bauherr und Handwerker mussten zuerst die passenden Bäume finden und sie zum richtigen Zeitpunkt fällen, um jenes dauerhafte Holz zu bekommen, das für ein nachhaltiges Gebäude taugte. Was oft vergessen geht: Holz liess früher als Baumaterial gar nicht so viel Spielraum in der Konstruktion zu. Gewisse Proportionen waren durch die nutzbare Stammlänge schlicht vorgegeben.
Bei Bauernhäusern aus Stein war das anders. Da konnte je nach Konstruktion ein Stein auf den anderen gelegt werden. Entsprechend entstanden – insbesondere im Engadin – teilweise sehr komplexe und voluminöse Gebäude mit einem hölzernen Kern und dicken gemauerten Aussenwänden. In der Innerschweiz ist Furrer auf viele Blockbauten aus Holz gestossen, die mit typischen Klebdächern, eine Art Schutzdach über den Fenstern entlang der Giebelfront, versehen sind.
Diese Bauernhäuser kommen gegen aussen oftmals schlicht daher, sind dafür im Innern üppig dekoriert und bemalt. Vor allem auf die gute Stube legte man Wert. Reichhaltig geschnitzte Holzbüffets, Kommoden und kunstvolle Täfelung verwandelten das Wohnzimmer in einen geradezu repräsentativen Raum. Ganz im Gegensatz zur Küche. «Sie genoss im bäuerlichen Alltag keinen hohen Stellenwert. Schliesslich war sie das Wirkungsfeld der Frauen», erklärt Furrer.
Der Raum verfügte meist nur über wenig Tageslicht. Wasserleitungen, die direkt zu Haus und Küche führten, gab es lange Zeit keine. Hatte der Bauer ein wenig Geld auf der Seite, wurde konsequent in den Stall investiert, oder man kaufte eine Kuh oder ein Stück Land, was wiederum Ertrag abwarf.
Auch der Glaube und die Religion beeinflussten die Ausstattung der Bauernhäuser früher stark. In reformierten Gegenden stiess Furrer und sein Forschungsteam auf Fassaden mit Bibelsprüchen in dekorativen Schriften. Bei Innerschweizer Bauernhäusern fehlen Hausinschriften fast ganz, dafür findet man anderes vor: reich geschmückte Herrgottswinkel in Stubenecken oder frivole Zeichnungen, wie Nacktdarstellungen von Adam und Eva sowie anmutige «Bildstöckli», eine Art Mini-Kapelle im Freien.
Für ihre Forschung besichtigten Furrer und sein Team nicht nur zahlreiche Bauernhäuser, sondern konsultierten auch Grundbücher, Katasterpläne und Akten zur Bauholzvergabe. In der einst dezentral regierten Innerschweiz fehlten teilweise wichtige Quellen zur Hausforschung, im zentral regierten Mittelland sah es besser aus. Hier mussten Baugesuche an einer bestimmten Stelle eingereicht werden und gab es schon 1812 eine obligatorische Gebäudeversicherung und entsprechende Lagerbücher. Dank diesen Dokumenten konnten unter anderem Eigentümer, Gebäudefunktion sowie Materialien für Dach- und Wandaufbau eruiert werden.
Die Gebäudeversicherung beeinflusste indirekt die Materialwahl der Bauten, wie Furrer herausgefunden hat:
In Kantonen, die früh eine obligatorische Gebäudeversicherung kannten, findet man tendenziell weniger Holzbauten, weil leicht brennbares Material die Versicherungsprämien in die Höhe trieb
Welches sind für Furrer die spannendsten und überraschendsten Erkenntnisse? Seine Mine erhellt sich: Dazu gehört die Entdeckung von mehr als zwei Dutzend spätmittelalterlichen Blockbauten in den Kantonen Schwyz und Uri. Ihre charakteristischen Merkmale sind die fassadensichtigen Boden- und Deckenbohlen und das Fehlen von Firstkammern. Solche Wohnhäuser haben sich im Talkessel von Schwyz in erstaunlich hoher Zahl erhalten. Einige sind bis heute bewohnt, andere stehen leer.
Das so genannte Haus Bethlehem aus dem Jahr 1287, das in Schwyz steht, wurde 1989 renoviert und ist seither ein Wohnmuseum. Ein ähnlich spektakulärer Blockbau, der 1336 in Ibach gebaut wurde, kam ins Freilichtmuseum Ballenberg. Der bisher älteste bekannte Bau aus dem Kantonshauptort Schwyz, das Haus Niederöst von 1176, wurde 2001 abgebrochen, mehrere Jahre eingelagert und fand 2015 in Morgarten eine gesicherte Bleibe.
Was geht dem Schweizer Bauernhausforscher durch den Kopf, wenn er hört, dass die Schwyzer Regierung ein 700 Jahre altes Haus zum Abriss freigibt, das aus der Gründungszeit der Eidgenossenschaft stammt? Furrer stellt fest:
Die Schwyzer Regierung ignoriert den Wert der Bauten. Das zeugt nicht wirklich von einem Verständnis und Bewusstsein für Geschichte
Bei besagtem Haus an der Lauigasse in Steinen handle es sich um ein Objekt, das zu einer europaweit einmaligen Holzhäuserlandschaft gehöre. Furrer:
Andernorts würde so ein Haus zum Unesco-Welterbe gehören. Im Kanton Schwyz will man es abreissen, mit der Begründung, darin lasse sich nicht komfortabel wohnen
Diese Haltung ist für Furrer von Desinteresse geprägt. Lobende Worte findet er für den Kanton Graubünden, wo generell eine hohe Sensibilität und ein Bewusstsein für das Kulturgut Bauernhaus vorhanden sei.
Typisch für das Engadin sind die wuchtigen Steinmauern, die oftmals mit der Sgraffito-Technik verziert sind, wobei Scheune und Wohnhaus durch ein grosses Portal und den dahinter anschliessenden Sulèr verbunden sind.
In der Ostschweiz wiederum sind Fachwerkhäuser verbreitet, und in der Westschweiz und im Tessin dominiert der Steinbau.
In der Innerschweiz gibt es viele Blockbauten aus Holz mit Klebdächern, eine Art Schutzdach über den Fenstern entlang der Giebelfront. Beim typischen Emmentaler Bauernhaus wiederum erstreckt sich ein langes Walmdach über Wohnbereich, Tenne und Stall. (sw)