Nominiert für Schweizer Buchpreis
Lioba Happels Roman «Pommfritz» ist kunstvolle Ekelprosa

Im buchpreisnominierten Roman «Pommfritz» wird ein geschundenes Kind als Mann zum Muttermörder und Kannibale und berichtet in 23 Briefen davon. Harte Kost.

Hansruedi Kugler
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Lioba Happel las an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen aus «Pommfritz».

Lioba Happel las an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen aus «Pommfritz».

Bild: Hanspeter Bärtschi/SZ

Ich sags gleich zu Beginn: Wäre dieser Roman nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, ich hätte ihn nach ein paar Seiten weggelegt. «Kannibale zu werden, war meine hehre Berufung, mein heiliger Auftrag, das war die Sendung», steht bereits auf der ersten Seite – im ersten Brief eines jungen Mannes an seinen Vater, den er nur einmal, vor langer Zeit, gesehen hat. Schuldbewusstsein also gleich null, den Mord als höheren Auftrag zu interpretieren, ist pseudoreligiöser Fanatismus. Aus dem Gefängnis heraus berichtet er oft schwülstig, dann psychologisch maximal erschreckend, von seiner verwahrlosten, lieblosen Kindheit und Jugend – und warum er später seine monströs dicke Mutter umgebracht, die Kuppe ihres Fingers gebraten und verspeist hat. Mögen Sie, liebe Zeitungsleserinnen und -leser weiterlesen? Immerhin: Gemäss Buchpreis-Jury soll dieser Roman zu den fünf besten des Jahres zählen.

Literarische Fantasie leuchtet in dunkelste Ecken

Wenn Sie noch ein bisschen Geduld haben: Die Literaturgeschichte hat uns immer wieder Vatermörder und Kindstöterinnen, Sadisten und Folterer vorgelegt. Auch der kultiviert-sadistische Kannibale Hannibal Lector hat uns vor einigen Jahren das Gruseln gelehrt. Und wir erinnern uns an den Skandal um den «Babyficker»-Text von Urs Allemann, der vor dreissig Jahren einen Preis beim Bachmannlesen erhalten hat. Dass Fantasie weit geht, die düstersten Ecken unserer Psyche auslotet und die Kunst jenes Medium ist, in welchem wir uns damit virtuell beschäftigen können, und wir uns also den eigenen Ängsten aussetzen, das wissen wir nicht erst seit Marquis de Sades blutrünstiger Antimoral. Und was man aus Kriegsgebieten hört, übersteigt selbst die ekelhaftesten literarischen Schandtaten. Alles gut also mit Lioba Happels Antiheld?

«Schneid mal deiner Mutter was von der Hand ab»

Liest noch jemand weiter? Was man Lioba Happel nicht vorwerfen kann: Dass sie bloss auf den Horroreffekt abzielt. Ihr Roman ist die radikalste Variante eines Mutterhasses bzw. des düsteren Schattens einer Liebesverweigerung. Der Ich-Erzähler ist das Ergebnis einer totalen Vernachlässigung und Demütigung. Seinen Mord begeht er nicht aus Rache, sondern um seine Mutter zu erlösen von ihrer Selbstverachtung. Und die gebratene Fingerkuppe? Sie ist ihm Ersatz für die nie erhaltene Mutterliebe. «Schneid mal deiner Mutter was von der Hand ab, mit der sie dir nie übern Kopf gestrichen hat», schreibt Pommfritz. Wenigstens das kleine Stückchen hat er nun von ihr. Denn sonst hatte sie den Sohn immer nur verprügelt, ihn am Tischbein angebunden und ihm nur ein Wort gelehrt: «Beschissen». Spielen hat er nur mit halb toten Fliegen gelernt. Dass aus dieser Kindheitshölle ein Höllenkind wie dieser Kannibale wird, scheint dramaturgisch folgerichtig. Aber ist dafür eine solche Drastik nötig? Zum Beispiel dafür, dass er Glück nur erlebt, wenn ihn seine Sexpartnerin nach dem Koitus tüchtig verprügelt?

Was ist bei allem Ekel daran kunstvoll? Nun kann man das alte Argument bringen: Gelungen ist ein Roman dann, wenn Form und Inhalt übereinstimmen. Ja, Lioba Happel lässt ihren Antihelden glaubhaft sprechen: einerseits vulgär und anderseits immer wieder hochgestochen, weil er von einer Lehrerin mit Literatur gefüttert worden ist. Die Briefform entspricht zudem konsequent der Vereinsamung des Pommfritz. Dass die Autorin dessen Lebensbeichte gekonnt in das literarische Genre des Anti-Entwicklungsromans einflechtet, ist ein souveräner Kniff.

Auch kein Trost von Arthur Rimbaud

Kommt die literarische Referenz hinzu: Pommfritz und auch dieses Buch sind erklärtermassen inspiriert von Arthur Rimbaud, der 1873 in «Ein Aufenthalt in der Hölle» schrieb: «Das Unglück war mein Gott. Ich wälzte mich im Schlamm. Ich trocknete mich an der Luft des Verbrechens. Und ich spielte dem Wahnsinn ein paar schöne Streiche.» Es sind unübersehbare Parallelen zu Lioba Happels Antihelden. Dem nützt jedoch die ganze Kunst und seine Briefschreiberei nichts: Jetzt, in Einzelhaft, verwahrt und als Kannibale von seinen Mitgefangenen verachtet und vom Wärter vergewaltigt, hat Pommfritz nur noch seinen fernen Vater. Antwort bekommt er auf seine Briefe keine. Der in die Zelle geschickte Pfarrer muss sich bei den Schilderungen des Mordes gleich mehrfach übergeben. Man will den wenigen geduldigen Leserinnen und Lesern nicht dasselbe wünschen. Trost darf man von diesem düsteren Roman jedenfalls keinen erwarten.

Lioba Happel: Pommfritz aus der Hölle. Roman. Pudelundpinscher. 164 S.