Kopfweh vom Weltenwirrwarr

Eine Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeichnet aus Tagebüchern und Briefen ein schillerndes Bild, wie Schriftsteller den Beginn des Ersten Weltkriegs wahrnahmen und ihn einzuordnen versuchten.

Valeria Heintges
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An der Front entwirft der Schriftsteller und Soldat Gustav Sack einen Roman und illustriert ihn im Brief an seine Frau Paula mit einem Seiltänzer. (Bild: DLA Marbach)

An der Front entwirft der Schriftsteller und Soldat Gustav Sack einen Roman und illustriert ihn im Brief an seine Frau Paula mit einem Seiltänzer. (Bild: DLA Marbach)

Hermann Hesse schreibt am 1. August 1914 in sein Tagebuch: Seit der Einmischung Russlands in die Sache mit Serbien gingen Kriegsgerüchte in der Schweiz um, von Vielen und auch von mir nicht ernst genommen. Hesse endet mit: Am Abend feierten wir hoch droben auf der Zelgg den 1. August mit Speerwerfen der Buben, etwas Feuerwerk etc. Köstliche Mondnacht.

Kafkas «L» sind Schlangen

Auch Franz Kafka greift zur Feder. In seiner geschwungenen Schrift, deren Unterlängen von «L» und «S» sich wie Schlangen über das Blatt winden, notiert er am 31. Juli 1914 in Prag: Ich habe keine Zeit. Es ist allgemeine Mobilisierung. Jetzt bekomme ich den Lohn des Alleinseins. Es ist allerdings kaum ein Lohn. Alleinsein bringt nur Strafen. Zwei Tage später fügt er am unteren Seitenrand dazu: Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.

Manche Schriftsteller reagieren mit grösster Sorge, andere mit erschreckender Unbedarftheit auf die Ereignisse, die im August 1914 den Ersten Weltkrieg auslösen, diese «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts», so der amerikanische Historiker George Kennan.

Am 1. August schreibt Arthur Schnitzler: Mit O(lga) Samaden; … Mit Leo Pontresina – Banken geschlossen. Kein Geld auf Creditbriefe. Allgemeiner Wahnsinn Schweiz im Kriegszustand. Schnitzler ist 52 Jahre alt, damit muss er nicht mehr befürchten, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Sein grösstes Problem ist daher, dass 1914 ein Österreicher den Literaturnobelpreis bekommen soll und man daran denke ihn zwischen mir und Peter Altenberg zu theilen, was Olga noch viel aergerlicher empfindet als ich – nicht aus finanz. Ursachen, sondern weil der lit. Nobelpreis noch nie getheilt worden. Lakonisch kommentiert Christoph Willmitzer: «Schnitzler musste sich nicht lange sorgen. 1914 wurde der Nobelpreis überhaupt nicht vergeben.»

Willmitzer ist Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach, das in seinem Literaturmuseum der Moderne die Ausstellung «August 1914. Literatur und Krieg» zeigt. Der August 1914 wird darin Tag für Tag aus dem Archiv geholt, die Zeit bis Kriegsende 1918 stichprobenartig. Ausgestellt werden private Texte: Tagebucheinträge, Feldpostbriefe, Briefe überhaupt. Dazu einige wenige Gegenstände wie ein durchlöcherter Stahlhelm, den Ernst Jünger als Trophäe einem von ihm Getöteten abnahm.

Probebohrung in der Zeit

In drei kleinen Büchlein, die in der Ausstellung ausliegen, sind alle Texte abgedruckt, dazu Informationen zu den Schreibenden. Diese «Probebohrung in der Zeit», wie Willmitzer formuliert, schlägt den Besuchern als vielstimmiges Gewirr in den Texten entgegen. Sie reichen von Jüngers irritierender Emotionslosigkeit über das propagandagetränkte Tagebuch der 13jährigen Marie Luise von Holzing, später Kaschnitz, bis zu emotionalen Ausbrüchen. So schreibt Werner Picht am 6. August 1914: Der Kopf ist mir so wirr und weh von diesem Weltenwirrwarr.

Krieg der Medien, der Zensur

Der Kopf ist auch wirr, weil der Krieg auch als Krieg der Medien, der Propaganda und der Zensur geführt wird. Feldpostbriefe müssen unverschlüsselt abgegeben werden. Was wahr ist, was gelogen, weiss keiner genau. Der Verleger Kurt Wolff zitiert Tolstoi: Rostow wusste aus eigner Erfahrung, dass jeder luegt, der Kriegsgeschichten erzählt.

Der Hurrapatriotismus, der zunächst viele erfasst, weicht je länger je mehr grosser Ernüchterung, sogar Verzweiflung. Grosse Geister wie Hermann Hesse, dessen Nachlass im Literaturarchiv Marbach liegt, bilden da keine Ausnahme. Seine Aufzeichnungen zeigen den Wandel von einem, der unbedingt für Deutschland an die Front will, zum überzeugten Pazifisten. So tippt Hesse am 7. August 1914 auf seiner Schreibmaschine: Ich bemerke, wie einseitig patriotisch ich geworden bin; Bemerkungen kritischer Art über Deutschlands Benehmen gegen Belgien (das ich selbst nicht loben kann!) ärgern und erregen mich.

Am 27. August, Hesse ist zum zweitenmal wegen Kurzsichtigkeit ausgemustert worden, klingt das schon anders: Seit Langem wusste ich, dass es keineswegs die Vernunft ist, die die praktische Welt regiert, aber die Brutalität des Krieges und das fast völlige Versagen der vernünftig-friedlichen Kulturkräfte ist doch überaus traurig.

Berührend scheinen in dem Stimmengewirr die Briefe von Gustav Sack auf, einem heute vergessenen Dichter. Liebevoll schreibt er beinahe täglich seiner Frau Paula. 315 Briefe wird sie bekommen, in denen sich das Ehepaar gegenseitig «Karl» nennt. Sack bringt dem Krieg von Anfang an Widerwillen entgegen. Den ersten Brief schreibt er im Gasthof Adler im glarnerischen Linthal: Lieber Karl, Den Krieg mache ich nicht mit, da mögen andere, alle sagen, was sie wollen. Sack ist in die Schweiz gekommen, um dem Einberufungsbefehl zu entgehen, und langweilt sich sehr, denn obwohl es sicher sehr hübsch hier ist, ist es zum Erbrechen öde.

Sack hält die Untätigkeit nicht aus, meldet sich freiwillig und wirft sich in das wahnsinnige, gänzlich sinnlose va-banque-Spiel. Am 10. Oktober 1914 schreibt er von der Westfront, So, mein lieber Karl, der erste Brief aus dem Schützengraben, später aus dem Heimaturlaub in Bayern, dann aus Rumänien. Sack schickt Paula einen Entwurf für das Kriegsverweigererdrama «Der Refraktair», den er mit einem dickbäuchigen Seiltänzer hoch über einem Kirchturm illustriert. Ein anderes Mal zeichnet er «dampfende Alpen», dann skizziert er die Schützengräben.

Steinklee riecht immer noch

In einen Brief legt Sack Steinkleeblüten, «die riechen nach hundert Jahren noch nach Waldmeister», versichert Willmitzer den Besuchern, oder er nestelt ein Stück Stroh aus unserem Loch. Dazu beschreibt er schonungslos die Schlacht, etwa die Reihen toter Franzosen, kein Mensch begräbt sie, diese schwarzen, faulenden Klumpen. Später fotografiert er, mit einer Kodak- Premoette-Kamera. Am 30. November 1916 entwirft er noch den Roman «In Ketten durch Rumänien». Am 26. Dezember 1916 erhält Paula Sack ein Kästchen. Darin die Dinge, die man bei ihrem toten Mann fand: eine Pfeife mit Tabakresten, ein Geldbeutel, eine mit einem Amor beklebte Schachtel, darin Fotos von Gustav und Paula und der Ring einer Studentenverbindung.

August 1914. Literatur und Krieg, bis 21.4., Literaturmuseum der Moderne, Marbach. Dokumentation: Marbacher Magazine 144: August 1914, 3 Bände, ca. 750 Seiten

Was vom Leben übrig bleibt: Paket mit Gustav Sacks Habseligkeiten. (Bild: DLA Marbach)

Was vom Leben übrig bleibt: Paket mit Gustav Sacks Habseligkeiten. (Bild: DLA Marbach)

Bild: VALERIA HEINTGES

Bild: VALERIA HEINTGES