Philosophin und Publizistin Hannah Arendt hat sich wie nur wenige Intellektuelle exponiert. Der Ukrainekrieg macht ihre Werke und Erkenntnisse zu moralischem Handeln wieder aktuell.
Wenn Putins Truppen in Europa völlig willkürlich Städte zerstören, Frauen vor deren Kindern vergewaltigen und ermorden und auch Kinder vor ihren Eltern, wenn das Böse derart brachial sich in unserer näheren Gegenwart austobt, ist es höchste Zeit, Hannah Arendts Bücher wieder hervorzunehmen.
Geboren 1906 und aufgewachsen in Königsberg, dem heute russischen Kaliningrad, studierte sie Philosophie bei keinem Geringeren als Martin Heidegger, mit dem sie eine geheime Liebe verband. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 war sie eine Vertriebene. Sie migrierte nach Paris, kam ins südfranzösische Internierungslager Gurs. 1941 gelang ihr die Flucht nach New York, wo sie bis zu ihrem Tod 1975 wirkte.
Hannah Arendt hat sich wie nur wenige Intellektuelle exponiert. Als 1961/62 in Jerusalem der Prozess gegen den SS-Schergen Adolf Eichmann begann, reiste Arendt als Berichterstatterin hin. Daraus entstand ihr Bericht über die «Banalität des Bösen, der eine der unerbittlichsten geschichtlichen Kontroversen des 20. Jahrhunderts auslöste. Über das Böse, über Antisemitismus, Imperialismus und den Totalitarismus als Herrschaft von Ideologie und Terror denkt Arendt besonders eindringlich in ihrem Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» (1950) nach.
Auch im heutigen Krieg in der Ukraine wäre es falsch, die Gräueltaten lediglich auf böse Monster zurückzuführen (die es zweifellos gibt). Schwerer zu fassen sind jene, die sich als Rädchen in Putins System sehen, dem sie widerspruchslos gehorchen. Doch so wenig die Nazi-Täter die Schuld auf den Massenmörder Hitler abschieben konnten, können die Russinnen und Russen sich heute einfach hinter dem Kriegsverbrecher Putin verstecken. Für Arendt gibt es zwar keine Kollektivschuld, aber auch keine kollektive Unschuld. Das Problem sind die Menschen, deren Verhalten sich konditionieren lässt, bis sie schliesslich entsetzliche Taten begehen.
Hannah Arendt versteht die Philosophie nicht als elitäre Disziplin, sondern als menschliche Notwendigkeit. Ihr zufolge drohen Gewaltakte, wenn die Menschen aufhören, selbstständig zu denken. Wenn ihnen die Fähigkeit abhandenkommt, Recht von Unrecht trennen zu können. Gerade das lässt sich heute wieder beobachten: bei Putins Soldateska, aber auch innerhalb der russischen Bevölkerung und selbst bei den Putinisten in unserem Land.