Kinoklassiker wird 50
«A Clockwork Orange»-Hauptdarsteller Malcolm McDowell sagt: «Ich bin der Grossvater des Punks»

Vor 50 Jahren kam Stanley Kubricks verstörender Kult-Klassiker «A Clockwork Orange» in die Kinos. Der Hauptdarsteller Malcolm McDowell blickt auf die Dreharbeiten zu dieser bizarren Dystopie zurück.

Marlène von Arx
Drucken
Düsterer Freak mit kultigen Wimpern: Malcolm McDowell als Gangchef Alex DeLarge.

Düsterer Freak mit kultigen Wimpern: Malcolm McDowell als Gangchef Alex DeLarge.

imago images/Mary Evans

Der Spielfilm «A Clockwork Orange», der 1972 in die Kinos kam, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Anthony Burgess und spielt in einer dystopischen Welt. Malcolm McDowell verkörpert den Gangchef Alex DeLarge, ein sadistischer Hooligan und Vergewaltiger, der die Musik von Beethoven liebt. Im Gefängnis unterzieht er sich einer experimentellen Aversionstherapie, die unbeabsichtigte Folgen hat.

Dieser Film spaltete vor 50 Jahren die Gemüter. Wie erinnern Sie sich an die Reaktionen damals?

Ich war positiv schockiert. Niemand hatte je so einen Film gesehen. Er war verstörend. Es gab viel Aufhebens wegen der Gewalt. Als ob wir Gangs erfunden hätten! Hatten die Leute denn «West Side Story» nicht gesehen? Oder die Nachrichten? Oder Peckinpahs Film «The Wild Bunch»?

Sie mochten es damals kontrovers: In verschiedenen Ländern war der Film verboten – so wie auch Ihr vorgängiger Film «If…», in dem Sie einen Schulaufstand anzetteln…

…und da bin ich sehr stolz drauf. «If…» war politisch zu explosiv für Südafrika und Osteuropa. «A Clockwork Orange» natürlich auch. In England war der Film zwar nicht verboten, aber Stanley Kubrick nahm ihn vom Markt (wegen Nachahmer, Anm. d. Red.). In Spanien kreierte er 1975 einen Aufstand ausserhalb Madrids. «A Clockwork Orange» symbolisierte einen Riss im Franco-Regime. Die Leute schliefen auf der Strasse, um Tickets zu bekommen.

Wie kamen Sie zur Rolle?

Kubrick hatte mich in «If…» von Lindsay Anderson gesehen. Lindsay war ein Genie und im Vergleich zum Satiriker Kubrick eher ein Humanist. Ich glaube, Kubrick mochte Menschen nicht sonderlich und misstraute ihnen. Jedenfalls sah Kubrick den Film «If…», der gerade als sehr cool galt, und lud mich darauf zu sich ein. Er gab mir das Buch von Burgess und sagte, ich soll mich melden, wenn ich es gelesen habe.

Malcolm McDowell.

Malcolm McDowell.

imago images

Sagten Sie sofort zu?

Ich musste das Buch zuerst dreimal lesen. Ich verstand kein Wort. Beim zweiten Mal gewöhnte ich mich an die Sprache, aber ich sah nicht, wie man das Buch verfilmen konnte. Beim dritten Mal ging mir das Licht auf, dass es eine tolle Rolle für mich war. Dann rief ich ihn an. Schliesslich war Kubrick ein Master, der «Paths of Glory», «Spartacus», «Lolita», «Dr. Strangelove» und «2001: A Space Odyssey» gedreht hatte. Seine Filme waren provokativ und sowohl künstlerisch wie kommerziell erfolgreich. Das ist selten. Man kann ihn diesbezüglich höchstens mit Steven Spielberg vergleichen.

Wieso spricht «A Clockwork Orange» immer wieder ein neues Publikum an?

Ich glaube, was die heutigen Jungen anspricht, ist die anarchistische Attitüde und das politische Element: die Warnung vor Big Brother, vor dem Staat und den mehr und mehr erodierenden Freiheiten.

Inwiefern hatte der Film auch einen nachhaltigen kulturellen Einfluss?

Der Einfluss ging tief: Rockbands kopierten den Stil und Look, denn obwohl es keine Rock-Musik im Film gibt, ist er sehr Punk. Ich bin quasi der Grossvater des Punks (lacht). Der Fashion-Designer Jean Paul Gaultier sagte mir, dass ganze Kollektionen von «A Clockwork Orange» inspiriert waren, und Madonna drehte verschiedene Videos, in denen sie mein Kostüm trug.

Den Look von Alex und seiner Gang, den «Droogs», haben Sie mit Kubrick selber erarbeitet. Wie kam es dazu?

Vor den Dreharbeiten ging ich mehrmals die Woche zu Stanley nach Hause. Er bestellte Poulet beim Chinesen, wir sprachen über das Projekt und schauten Filme. Einmal fragte er mich, wie Alex sich kleiden würde. Der Film war futuristisch, ich hatte also keine Ahnung. Er fragte, was ich denn dabei hätte. Ich hatte nur meine Cricket-Ausrüstung im Auto. Daher kommt das weisse Kostüm und der nach aussen getragene Hodenschutz. In einer Boutique stiess ich auf Augenwimpern am Meter. Ich brachte sie ihm zum Scherz, aber er meinte sogleich, ich soll sie ankleben. Dann kam noch der Melonenhut dazu als Mittelfinger an die Gentlemen-Klasse.

Zur Person

Malcolm McDowell

Malcolm John Taylor wurde am 13. Juni 1943 in Leeds geboren und wuchs in Liverpool auf. Seine Eltern führten ein Pub, das bankrott ging, weil der Vater, einst bei der Royal Air Force, die Einnahmen versoff. Malcolm ging ins Internat und schliesslich in die Schauspielschule. Da es bereits einen Malcolm Taylor in der Schauspielergewerkschaft gab, nahm er den Mädchennamen seiner Mutter, McDowell, an («das hat mir mein Vater nie verziehen»). Seine erste Filmrolle in Ken Loach’s «Poor Cow» (1967) wurde aus dem Film herausgeschnitten. Der internationale Durchbruch gelang ihm in Stanley Kubrick’s «A Clockwork Orange» (1972). In McDowells langer Karriere finden sich Filme mit Peter O’Toole («Caligula», 1979), von Paul Schrader («Cat People», 1982) und Robert Altman («The Company», 2003), sowie diverse Horrorstreifen («Halloween») und TV-Serien («Gossip Girl»). 1994 bekam er Morddrohungen, weil er als Bösewicht in «Star Trek: Generations» Captain Kirk umbrachte. McDowell lebt in Kalifornien, ist zum dritten Mal verheiratet und hat vier Söhne und eine Tochter. Die Mutter der älteren beiden Kinder ist die Schauspielerin Mary Steenburgen und seine Schwiegertochter ist Lily Collins («Emily in Paris»). (mva)

Stanley Kubrick lebte sehr zurückgezogen. Was überraschte Sie an ihm?

Kaum einer hielt ihn für einen Mann mit Humor. Aber den hatte er; einen sehr schwarzen Humor. Einmal liefen ihm sogar Tränen über die Wangen und er musste sich ein Taschentuch in den Mund stopfen, damit er nicht laus loslachte und man es bei den Aufnahmen hörte.

Welche weiteren Erinnerungen haben Sie an die Dreharbeiten?

Die Dreharbeiten waren eine wunderbare Erfahrung für einen relativ jungen Schauspieler. Ich mochte Kubrick sehr – ich hätte die Rolle auch nicht spielen können, wenn ich Angst vor ihm gehabt hätte. Kamera, Linsen, Lichter, Ton – er verstand alles. Bei uns Schauspielern mischte er sich glücklicherweise nicht ein. Als ich ihm einmal eine Frage zu einer Szene stellte, schaute er mich nur konsterniert an und meinte, das sei mein Job und lief davon. Krach gab es dann erst nach den Dreharbeiten.

Weshalb denn?

Unter anderem wegen des Geldes. Er hat mir die 2,5 Prozent des Gewinns nie bezahlt, die mir versprochen wurden. Aber Reichtum ist relativ. Ich habe eine tolle Karriere aufbauen können: Ich arbeite seit sechzig Jahren als Schauspieler in Film und Fernsehen, habe keine Schulden und kann meine Kinder ins College schicken. Ich habe sogar letztes Jahr vier Filme gedreht. Das ist nicht selbstverständlich.