Mit «Moonlight» startet heute der verdiente Oscar-Gewinner in unseren Kinos. Tiefe Emotionalität und eine einzigartige Filmsprache öffnen die Geschichte des Afroamerikaners Chiron für alle.
Regina Grüter
Es ist heiss. Das Licht ist weiss. Aus den Autoboxen dröhnt «Every Nigger Is A Star» in einer Remix-Version. Die Songzeilen von Boris Gardiner aus dem Jahr 1973 sind Programm in Barry Jenkins’ «Moonlight», der vor einer guten Woche den Oscar als bester Film gewonnen hat. Sie erzählen von der Erinnerung an sonnige und blaue Orte. Von einem Gefühl des Stolzes, das sich der Amerikaner dunkler Hautfarbe allen Widrigkeiten zum Trotz nicht nehmen lässt. Und von der Hoffnung auf einen Platz an der Sonne, wo es Liebe für alle gibt.
Sonnig und blau, so zeigt sich das verruchte Miami, wo Juan (Mahershala Ali ) aus seiner protzigen Karre steigt. Die Handkamera umkreist ihn sowie seinen Kleindealer und etabliert den verwahrlosten Stadtteil Liberty City in seiner Schönheit des Verfalls. Chiron, von allen Little genannt, wächst hier auf, mit einer alleinerziehenden, drogensüchtigen Mutter (Naomie Harris). Ausgerechnet Juan nimmt sich des 10-Jährigen an, der den Mitschülern durch seine stille Art ein Dorn im Auge ist. Die Figur des Juan lässt hinter die Fassade des stereotypen Drogendealers blicken. In Chiron sieht Juan eben auch sich selbst. «In Moonlight Black Boys Look Blue», habe einst eine alte Frau zu ihm gesagt. Das ist es, was Jenkins zeigen will: dass schwarze Haut nicht gleich schwarze Haut und schwarzes Leben nicht gleich schwarzes Leben ist.
Littles kindliche Unschuld endet mit drei Erkenntnissen: Er könnte schwul sein (auch wenn er noch keine Vorstellung davon hat, was das bedeutet). Juan verkauft Drogen. Seine Mutter nimmt Drogen. Boris Gardiner singt in «Every Nigger Is A Star» von Einsamkeit, vom Leben auf der Strasse, von Hass und Verachtung. Chiron, inzwischen an der Highschool, lebt aber immer noch in steter Angst vor Drangsalierungen.
«Moonlight» ist so etwas wie ein Gegenentwurf zum GangsterRap Ende der 1980er-Jahre, der Gewalt und Drogen im Ghetto – mit kritischem Unterton notabene – verherrlichte. Gangster-Rap ist Protest. Und Trotz. «Seht her, wir sind, wie ihr uns haben wollt», scheinen N. W. A oder Ice-T zu sagen. Auch dem politisch-aggressiven Stil von Public Enemy und deren «Fight The Power» in Spike Lees «Do The Right Thing» (1989) weiss Barry Jenkins etwas anderes entgegenzusetzen. Während Lee zwischen Wut und dem Wunsch nach Verständigung, zwischen Hip-Hop- und Jazz-Soundtrack oszilliert, ist «Moonlight» nicht wütend, oder zumindest nur in seinen Auslassungen – Bandenkriminalität, Drogenprostitution, Jugendknast. Die Filmsprache ist sanft wie seine Hauptfigur, die sich um des Überlebens willen eine harte Schale zulegen muss. Der gesamte Film ist wie von einem pastellfarbenen Schleier überzogen. Die verletzte Seele zeigt sich in Schlüsselszenen: Wenn sich Little Wasser für ein Bad aufkocht, Chirons musikalisches Leitmotiv die verzweifelten Rufe der Mutter nach Geld verdrängt, die Aussengeräusche immer lauter werden, die Aussenwelt in den Farben Grün, Gelb und Blau erstrahlt. Die ästhetische Überhöhung bewirkt, dass die Geschichte über die Sinne direkt ins Herz geht.
Neben der Farbgebung und der Kameraführung (James Laxton) sind es die Auslassungen auf der Tonspur und die Filmmusik von Nicholas Britell (beide Oscar-nominiert), die «Moonlight» zu einer einzigartigen cineastischen Erfahrung machen. Und die verletzte Seele spricht aus den Augen der je drei starken Darsteller in den Rollen von Chiron (Alex Hibbert, Ashton Sanders, Trevante Rhodes) und Kevin (Jaden Piner, Jharrel Jerome, Andre Holland).
In «Moonlight» steckt viel von Barry Jenkins und Tarell Alvin McCraney, auf dessen Theaterstück der Film basiert. Es sind spezifisch afroamerikanische Erfahrungen und allgemein menschliche, wie der Wunsch nach einem Platz an der Sonne, nach Liebe und Zugehörigkeit. Von solch emotionaler Tiefe gibt es derzeit nichts Vergleichbares.
Ab heute in den Kinos