Die neuen Filme «Bacalaureat -Graduation» von Christian Mungiu und «Sieranevada» von Christi Puiu beweisen eindrücklich die Lebendigkeit der «neuen rumänischen Welle».
Geri Krebs
ostschweizerkultur
Als vor genau zehn Jahren in Cannes das rumänische Drama «4 Months, 3 Weeks and 2 Days» von Christian Mungiu die Goldene Palme gewann, war das eine Sensation. Nie zuvor in der damals sechzigjährigen Geschichte des wichtigsten Filmfestivals der Welt hatte ein Film aus dem Land von Europas östlichem Rand – das just in jenem Jahr als neues Mitglied in die Europäische Union aufgenommen wurde – diese höchste Auszeichnung der Filmwelt gewonnen. Spätestens damit war die internationale Aufmerksamkeit auf das Filmschaffen jenes Landes gerichtet, das knapp zwei Jahrzehnte davor, im emblematischen Jahr 1989, als einziges in Osteuropa seine Befreiung von der kommunistischen Diktatur mit einer blutigen Revolution erkämpfen musste.
Dabei hatte schon vor Christian Mungius Triumph (auch in der Schweiz war «4 Months, 3 Weeks and 2 Days» Ende 2007 mit 23000 Kinoeintritten ein grosser Erfolg) eine «neue rumänische Welle» auf sich aufmerksam gemacht. Zu den Charakteristiken dieser Filme gehört, dass meist alltägliche Szenarien als Ausgangspunkt dienen und dass man mit natürlichem Licht, Direktton und mit möglichst affektfreiem Schauspiel arbeitet. Auf dieser Basis folgt ein spektakuläres Ereignis samt einer grossen Dosis an Nicht-Ausgesprochenem.
Einer der ersten rumänischen Filme, der nach diesen Prinzipien funktionierte, war 2005 «Der Tod des Herrn Lazarescu» von Christi Puiu, ein von schwarzem Humor durchzogenes Drama um einen älteren, allein lebenden Mann, der eine medizinische Notfallbehandlung benötigt und daraufhin eine Odyssee durch mehrere Spitäler durchläuft. Der Film gewann in Cannes in jenem Jahr den Preis der Sektion «Un certain regard»; seit damals gilt der 1967 in Bukarest geborene Christi Puiu als so etwas wie der «Vater der rumänischen neuen Welle». Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass im vergangenen Jahr erstmals in der Geschichte des Filmfestivals Cannes gleich zwei neue Filme aus Rumänien im Wettbewerb ihre Weltpremiere feierten: einer vom Palme-d’Or-Gewinner Christian Mungiu und einer vom Christi Puiu.
So inhaltlich und stilistisch unterschiedlich die beiden grossen Ensemblefilme «Bacalaureat – Graduation» von Mungiu und «Sieranevada» von Puiu auch sind: In beiden spielt die traumatische Geschichte Rumäniens mit ihren verlorenen Illusionen mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Ceaucescu-Diktatur stark mit hinein. Und ebenso ist in beiden Filmen unterschwellig der abgrundtiefe Riss zwischen Gewinnern und Verlierern präsent, der die rumänische Gesellschaft prägt.
Die traumatische Geschichte zeigt sich in «Bacalaureat – Graduation». Das Ehepaar Romeo und Magda war einst nach dem Sturz der Diktatur aus dem Exil nach Rumänien zurückgekehrt, um beim Aufbau des Landes mitzuwirken. Doch mittlerweile sehen sie nur noch in der Emigration der fast erwachsenen Tochter Eliza einen Ausweg aus der Misere. Doch dafür verlieren sie sich schnell in einem Labyrinth aus Korruption, was wie eine Illustration von Rumäniens politischer Gegenwart wirkt.
In «Sieranevada» – dessen Titel eigentlich purer Nonsens ist – steht ein verunglückter Totengedenktag einer Grossfamilie in einer verwinkelten Bukarester Wohnung im Zentrum. Die ganzen verlorenen Illusionen werden unter anderem in endlosen Palavern, Streitereien und wechselnden Allianzen zwischen verschiedenen Familienmitgliedern aufs Tapet gebracht. Der erwähnte Riss zwischen Gewinnern und Verlierern in der heutigen rumänischen Gesellschaft zeigt sich bereits in einer der ersten Szenen. Die Arztgattin Sandra zieht darin während eines Streits mit ihrem Mann Lary über jene Rumänen her, die temporär zum Erdbeerpflücken nach Spanien emigriert sind. Die Verachtung für diese Leute spricht ebenso Bände wie auf der anderen Seite die verzweifelte Überzeugung der männlichen Hauptfigur Romeo in «Bacalaureat», dass seine Tochter Eliza etwas Besseres ist als all ihre Mitschüler. Und besser ist das Mädchen, weil es ein Stipendium für eine Universität in England in Aussicht hat. Dafür lohnt es sich, alle Mittel einzusetzen – und seien sie auch noch so absurd und unmoralisch. Doch diese Mittel erscheinen als völlig normal in diesem Land.
«Bacalaureat» läuft im Kinok St. Gallen, «Sieranevada» ab 9.3., weitere Kinos in der Region folgen demnächst.