Jazz
Keith Jarrett oder der helle Wahnsinn

Der amerikanische Pianist Keith Jarrett ist der erste Jazzmusiker, der an der Biennale für Neue Musik in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Er bedankt sich mit «La Fenice», der Veröffentlichung eines grandiosen Albums

Stefan Künzli
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Der Jahrhundert-Musiker Keith Jarrett (73) hat von der klassischen Welt höchste Weihen erhalten.Rose Anne Colavito/ECM Records

Der Jahrhundert-Musiker Keith Jarrett (73) hat von der klassischen Welt höchste Weihen erhalten.Rose Anne Colavito/ECM Records

Keith Jarrett ist in der Welt der klassischen Musik kein unbeschriebenes Blatt. Schliesslich begann der Jahrhundert-Musiker seine Karriere als Wunderkind mit Klassik von Bach bis Prokofjew. Selbst während seines Aufstiegs zum gefeierten Jazz-Pianisten beschäftigte er sich immer mit klassischer Musik. Seine Musik ist denn auch von einer europäischen Ästhetik durchdrungen. Dem britischen «Guardian» erklärte er einst: «Ich glaube, dass man Improvisation nicht üben kann». Stattdessen widmet er sich kontinuierlich, praktisch und theoretisch dem Studium klassischer Musik.

Als Jarrett 1988 Bachs «Wohltemperiertes Klavier» interpretierte und sich erstmals einer breiten Öffentlichkeit als klassischer Pianist präsentierte, galt das als Sensation. Wie konnte ein Musiker, der alle Vorgaben und Regeln als Einengung empfand, sich plötzlich dem strikten Regelwerk des Kontrapunkts unterwerfen? Doch für Jarrett war das nie ein Widerspruch, sondern bloss die andere Seite seiner Kunst als Improvisator. Erst die eine und andere Seite ergeben den kompletten Künstler, den Jahrhundert-Künstler, Keith Jarrett. Erst beide Seiten können das Genie in seiner Gesamtheit erfassen.

Trotzdem ist die Ehrung von Jarrett für sein Lebenswerk an der Biennale in Venedig, einem der ältesten und wichtigsten Festivals für Neue Musik, überraschend. Steht der 73-jährige Amerikaner doch nun in einer Reihe von Komponisten der Neuen Musik wie Pierre Boulez, Luciano Berio, Wolfgang Rihm und Steve Reich, die in den letzten Jahren geehrt wurde. Überraschend ist die Auszeichnung auch deshalb, weil die Bedeutung des Improvisators Keith Jarrett ungleich grösser ist als jene des klassischen Interpreten oder Komponisten. Die Festival-Jury weist denn auch in ihrer Begründung auf seine «Kreativität in verschiedenen musikalischen Genres, einschliesslich der klassischen Musik» hin, ebenso auf seine «Kompositionen, die raffiniert und gleichzeitig intensiv sind». Sie würdigt ihn aber vor allem als «einen der bedeutendsten Pianisten im Bereich der Improvisation und als «einzigartige Persönlichkeit im Bereich des Jazz». Mit Jarrett wird am Festival für Neue Musik also auch der Einfluss des Jazz und der Improvisation geehrt.

Die Auszeichnung hätte Keith Jarrett am 29. September in Venedig überreicht werden sollen. Die Ehrung musste aber aus Krankheitsgründen ebenso abgesagt werden wie sein dort geplanter Solo-Auftritt. Sämtliche Konzerttermine in diesem Jahr wurden gestrichen und niemand weiss genau, woran er erkrankt ist. «Es trifft zu, dass Keith Jarrett erkrankt ist», schreibt das Label ECM auf Anfrage dieser SMD

Zeitung, «Genaueres können wir dazu allerdings nicht sagen und bitten alle Medienpartner, diesbezüglich auch von Spekulationen abzusehen». Ob und wann Keith Jarrett wieder auftreten wird, ist deshalb offen. Jarrett hat schon einmal, Ende der 90er-Jahre, drei Jahre pausiert. Er litt damals an einem mysteriösen, chronischen Erschöpfungssyndrom.

Jarrett und sein deutsches Label ECM bedanken sich stattdessen mit der Veröffentlichung eines Solo-Konzerts, das 2006 im Gran Teatro La Fenice in Venedig aufgenommen wurde, notabene in einer der heiligen Hallen der klassischen Musik. Es ist ein über 100-minütiger Mitschnitt auf zwei CDs. Fünf Jahre nach seinem Comeback hat der Meister zur alten Stärke zurückgefunden. Gemäss eigener Aussage musste er das Klavierspiel nach seiner Krankheit von Grund auf neu erlernen.

Herzstück von «La Fenice» ist eine namenlose Suite mit acht spontan erfundenen Stücken, die den gesamten Kosmos von Jarretts grosser Kunst wiedergeben. Da fabuliert der Meister über einen rollenden Bass (Part III), dort (Part IV) spielt er ein kinderliedhaftes Thema und versinkt im Wohlklang. Im swingenden und treibenden Part V besinnt er sich auf die Zeiten des Be-Bop. Dazu kontrastiert der eher statische Part VI mit seinen mächtigen Akkorden. Nach seiner Rückkehr 2001 sind die Stücke in der Regel kompakter, konzentrierter und damit auch kürzer geworden. Auf «La Fenice» meist zwischen 4 und 10Minuten. Die Ausnahme von der Regel ist Part I, ein knapp 18-minütiges atonales Feuerwerk, das dem Zuhörer den Atem raubt. Gegenläufige Melodien jagen sich, Jarrett spielt intensiv, abenteuerlich, hochkomplex. Der helle Wahnsinn!

Aber auch Referenzen an die Pop- und Volkskultur fehlen nicht. Zwischen Part VI und VII streut Jarrett überraschend «The Sun Whose Rays» aus einer satirischen Operette (The Mikado», 1885) der britischen Komponisten Gilbert und Sullivan ein. Im Finale schwelgt der Pianist über «My Wild Irish Rose», einem Song aus dem 1899 uraufgeführten Musical «A Romance of Athlone» des US-Komponisten Chauncey Olcott, interpretiert «Stella By Starlight», einen der erfolgreichsten Standards in Pop und Jazz, im Up-TempoModus und beschliesst das Konzert mit seinem eigenen Stück, der wunderbaren Ballade «Blossom», die wir von seinem Album «Belonging» im Quartett-Format kennen. Das Publikum reagiert mit Beifallsstürmen. Zu Recht. «La Fenice» liefert keine grundlegend neuen Erkenntnisse von Jarretts Kunst. Die Musik ist aber schlichtweg grandios, ein einzigartiges Dokument seines Genies.

Keith Jarrett La Fenice (ECM/Musikvertrieb).