Sein Debüt wurde ins Arabische übersetzt, mit der Übersetzung war er vor Ort auf Lesereise in Ägypten. Nun bringt der Berner Autor Jonas Lüscher einen Gast aus Kairo ans Literaturfestival Leukerbad
Es passiert nicht alle Tage: Das Debüt «Frühling der Barbaren» von Jonas Lüscher wurde ins Arabische übersetzt. Mit der Novelle hatte der heute 39-Jährige vor drei Jahren seinen fulminanten Einstand auf der Bühne der Literatur gegeben. Das Buch spielt in einem Tourismusresort in der tunesischen Wüste. Ironisch zugespitzt lässt es der in Bern aufgewachsene Autor in der Fiktion zum Clash der Kulturen kommen. Anders in der realen Welt: Die Übersetzung hat eine Brücke geschlagen in einen der aktuellen Krisenherde.
Jonas Lüscher: Es hat mich gefreut, weil das Buch dadurch den Weg in den Kulturraum findet, in dem es spielt. Gleichzeitig hat es mir auch Sorgen gemacht.
Für dieses Buch war ich nie in Tunesien, bewusst nicht. Es ist ja auch kein Buch über die arabische Welt, sondern ein Buch über einen westlichen, touristischen Blick auf diese Region. Trotzdem war meine Sorge, die Leute würden sagen: Wir erkennen unser Land nicht. Es kam auch manchmal der Vorwurf, es sei Orientalismus, was ich da betreibe.
Ich musste erklären, dass das natürlich schlimmster Orientalismus ist, aber dass ich mich damit über den Orientalismus lustig mache. Es gibt in Ägypten geübte Leser, die das sofort verstehen. Für andere waren die Ironie und das Schreiben auf mehreren Ebenen nicht verständlich.
Ich habe das zum ersten Mal gemacht, und die literarische Reportage ist ein Format, das mich sehr interessiert.
Es geht nicht nur darum, Fakten und Informationen zu liefern. Man versucht, mit den Mitteln der Literatur die Protagonisten plastisch werden zu lassen. Das ist eine Gratwanderung, man muss ja bei den Fakten bleiben.
Wenn sie als literarischer Text funktioniert, spielt das keine Rolle. Wir lesen heute auch noch die «Buddenbrooks», obwohl das ganz klar ein Buch ist, das eine bestimmte Zeit repräsentiert.
Einerseits ist es sprachlich nicht ganz einfach, und man kann auch nicht ohne weiteres Leute ansprechen. Mein Verleger hat vermittelt, er ist ein grosser Netzwerker. Zudem konnte ich viel als Gast beobachten. Ich bin in den drei Wochen meines Aufenthalts in Kairo fast jeden Abend in diese Bar gegangen.
Es ist eine Hotelbar, in die immer wieder Alleinreisende aus dem Westen kommen.
Eine Frau anzusprechen, ist sehr schwierig. Aber ich hatte viel Kontakt mit Frauen über die Leute, die ich dort kennen gelernt ¬habe: Verlegerinnen, Buchhändlerinnen, Autorinnen, Uniprofessorinnen. In diesen Kreisen ist das kein Problem.
Nein. Das Tollste an diesen Lesereisen ist, man lernt sehr schnell viele interessante Leute kennen. Und Kairo ist eine unglaublich entspannte Stadt, wenn man sich einmal an den verrückten Verkehr gewöhnt hat. Ich habe mich sicher gefühlt und bin tagelang zu Fuss durch die Stadt gegangen, in die grössten Armenviertel rein und hatte nie ein schlechtes Erlebnis. Die Leute sind freundlich.
Das ist eine andere Geschichte. Als westlicher Reisender ist man davon nicht so betroffen. Bei meinen Freunden dort hiess es, wenn, dann passiert uns etwas. Sie waren vorsichtig. Manchmal hatten wir im Auto heftigste politische Diskussionen. Später gingen wir in ein Restaurant, und dann wurde das Thema gewechselt. Allerdings hat sich die Situation verändert. Anfang Jahr wurde der italienische Doktorand Giulio Regeni, der Interviews über die Gewerkschaftsbewegung gemacht hatte, mit entsetzlichen Folterspuren tot aufgefunden. Die Schraube wurde noch mal angezogen.
Youssef Rakha bewegt sich zwischen den Welten. Er hat in England Philosophie studiert und hat eine kritische Distanz zu dem Revolutionsgeschehen. Viele sagen, es sei eine Volksbewegung gewesen und alle hätten mit einer Stimme gesprochen. Rakha sagt: Die Stimme des ganzen Volkes gibt es so nicht.
Rakha schöpft aus einem grossen intellektuellen Reservoir und schafft überraschende Verbindungen. In dem Essay beschreibt er arabische Pornoclips ganz explizit und analysiert sie mit Theorien von westlichen Philosophen. Das ist ungewöhnlich, gerade weil Sexualität ein Thema ist, über das man mit ägyptischen Männern nicht leicht reden kann.
Rakha streicht die Bedeutung ¬heraus, die die Sexualmoral für die arabische Welt hat. Seine These ist, dass es sich wahrscheinlich in der gesamten arabischen Welt nicht wirklich zum Besseren wenden kann, solange das Sexualverhältnis zwischen den Geschlechtern so verkrampft und bigott ist. Das Bigotte kann er sehr gut aufzeigen. Das Kopftuch zum Beispiel führt zu einer erhöhten sexuellen Spannung auf der Strasse. Und das wiederum führt zu Übergriffen. 99,3 Prozent der Ägypterinnen geben ja an, sie seien Opfer von sexuellen Übergriffen in der Öffentlichkeit.
Es ist auch gut, das von einem Mann zu lesen. Und Rakha ist so unverkrampft wie provokant. Ich hoffe, der Essay wird Anlass zu Kontroversen geben.
Ich glaube, es gibt ein Bedürfnis nach Erklärung für Dinge, die zurzeit in der Welt passieren. Es gibt grosse Themen, bei denen man darauf angewiesen ist, dass Leute, die sich eingehend damit befasst haben, sich dazu äussern, wenn man das verstehen will. Ich denke an den Brexit. Oder an die Flüchtlingsproblematik. Umgekehrt steigt das Interesse an der Welt dadurch. Wenn wir die Flüchtlingsproblematik nicht hätten, würden wir nie über Eritrea nachdenken. Wir würden auch nicht gross über Syrien oder die Türkei nachdenken.
Jonas Lüscher Damals auf dem Tahrir, Magazin «Reportagen» #28/2016, www.reportagen.com.