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Die bald siebzigjährige gebürtige Baslerin Miriam Cahn gehört zu den bedeutendsten Schweizer Künstlerinnen. Das Begehren, die weibliche Sexualität, Gewalt und Migration sind zentrale Themen in ihrer Kunst. Sie ist geprägt von der Frauen- und Friedensbewegung und bricht lustvoll Tabus, provoziert und nennt die Dinge beim Namen. Im Kunsthaus Bern zeigt sie eine furiose Retrospektive unter dem Titel «Ich als Mensch».
Als Erstes geht es in den Sexraum. So nennt Miriam Cahn das Kabinett, das sie im Kunstmuseum Bern eingerichtet hat und wo es explizit zur Sache geht, auch Gewalt ist im Spiel. In der Mitte hängt ihre Version von Gustave Courbets «L’origine du monde».
Wir schauen zwischen die nackten Beine einer Frau. Ihre Abaya ist hochgeschoben, der Körper entblösst. Im Gegensatz zu Courbets Darstellung hat sie einen Kopf, und der ist bis auf die Augen verschleiert. Das Werk ist ebenso als Beitrag zur Verhüllungsdebatte wie als Kritik am männlichen Blick auf den Körper der Frau zu verstehen.
Die Frau blickt den Betrachter direkt an, wie so häufig bei Miriam Cahn, die darauf achtet, dass ihre Werke auf Augenhöhe gehängt sind. «L’origine du monde schaut zurück», nennt sie es, und sie betont, dass anders als bei Courbet die Frau auch eine Klitoris habe: «Das Lustzentrum der Frau sollte man zeigen wie das des Mannes.»
200 Mal am Tag empöre ich mich. Der Zorn ist ein guter Motor.
Das Begehren und die weibliche Sexualität sind Themen, die Miriam Cahn umtreiben. Sie bricht lustvoll Tabus, provoziert, nennt die Dinge beim Namen. Auch eine Auswahl ihrer pornografischen Zeichnungen «Das klassische Lieben» ist ausgestellt: «Schon mit 14 Jahren habe ich mir meine Pornografie selbst gemacht.» Die Frau als sanftes Wesen, das sei verlogen.
Miriam Cahn führt mit sichtlichem Vergnügen durch die Berner Ausstellung, die sie selbst kuratiert hat. Sie besteht aus rund 180 Werken in sechs Räumen – eine Gesamtinstallation mit Arbeiten aus allen Werkphasen. Das Auftreten der in Basel aufgewachsenen Künstlerin, die seit vielen Jahren im Bergell wohnt, ist gänzlich uneitel: Das kurze graue Haar steht ihr strubbelig vom Kopf, und sie trägt eine korallenrote Steppweste.
Im Juli wird Miriam Cahn siebzig, und sie ist weit davon entfernt, altersmilde zu sein – im Gegenteil: «200 Mal am Tag empöre ich mich. Der Zorn ist ein guter Motor.» So wie sie sich einst gegen Atomkraftwerke und die Balkankriege engagierte, so solidarisiert sie sich heute mit der #MeToo-Bewegung. Kämpferisch ist Cahn schon als junge Frau: Bereits die erste Aktion, mit der die Künstlerin 1979 an die Öffentlichkeit tritt, ist ein Protest. Nachts bemalt sie in Basel den Betonrohbau einer umstrittenen Autobahnbrücke mit Kohlezeichnungen. Sie wird deswegen festgenommen und zu einer Busse verurteilt. In einer Vitrine liegen Skizzen aus jener Zeit.
Damals zeichnet sie mit Kohle und Bleistift auf dem Boden, manchmal mit geschlossenen Augen, und schafft in furiosen Performances grossformatige, expressive Zeichnungen. Ihr «Kriegsschiff mit Kanone» füllt in Bern eine ganze Wand. «ich zeichne liegend, kriechend, kauernd, mit schwarzer kreide, tanze auf weissem papier und wasche mir anschliessend den staub vom körper», beschreibt sie ihre Arbeitsweise. Schon früh gelingt ihr der künstlerische Durchbruch: 1982 wird sie an die Documenta 7 eingeladen, zieht ihren Beitrag aber zurück. 1984 vertritt sie die Schweiz an der Biennale Venedig. In den 1990ern wird es ruhiger um sie. Seit einigen Jahren wird ihre Kunst wiederentdeckt. Nach einem Auftritt an der letzten Documenta eröffnet nun das Kunstmuseum Bern einen Reigen von Ausstellungen. Nach Bern reist die Schau nach München und Warschau; auch das Kunsthaus Bregenz und die Reina Sofia in Madrid zeigen Einzelausstellungen.
Natürlich ist Miriam Cahn eine feministische Künstlerin, doch diese Schublade ist ihr zu eng. Lieber redet sie von Gleichwertigkeit, das schliesst Menschen, Tiere, Pflanzen, die ganze Schöpfung mit ein. Für ihre zutiefst humanistische Haltung steht auch der selbst gewählte Ausstellungstitel «Ich als Mensch».
Besonders stark bewegt Miriam Cahn das Thema Migration. Sie, die Tochter von Flüchtlingen, der Vater war Jude, nimmt diesbezüglich kein Blatt vor den Mund: «Wenn man weggeht, geht man weg. Das ist ein Menschenrecht.» Sie malt Menschen, verloren in einer weiten Ebene, schutzlos und nackt. «Nein, das sind keine badenden Kinder, sondern Ertrinkende», korrigiert sie eine Frau vor einem Gemälde ihrer Werkserie «Mare Nostrum». Tatsächlich lässt das in betörenden Blautönen gehaltene Werk die Betrachter auf den ersten Blick nichts Schlimmes ahnen. Und wieder redet Miriam Cahn Klartext, spitzt zu: «Europa hat die Flüchtlinge fallen gelassen. Das Mittelmeer ist inzwischen ein Massengrab.»
Auch Miriam Cahns grossformatige Aquarelle in leuchtendem Cyan, Magenta und Gelb führen zuerst auf die falsche Fährte. Es sind keine Blumen, sondern Atompilze. Der Aquarellzyklus «Atombombe» aus den 1980ern markiert Miriam Cahns Hinwendung zur Malerei. Er erhält heute, kurz nach der Aufkündigung des Abrüstungsvertrags über nukleare Mittelstreckenwaffen durch die USA und Russland, eine erschreckende Aktualität.
Miriam Cahn «Ich als Mensch». Kunstmuseum Bern bis 16. 6.