Mit Judit Villiger geht der diesjährige Thurgauer Kulturpreis an eine Künstlerin, der es nicht nur ums eigene Werk geht. Seit drei Jahren besitzt sie das Steckborner Haus zur Glocke. Und inszeniert dort mit Erfolg Begegnungen unterschiedlicher Kunstsparten.
«Das Schaffen von Verbindungen aus Linien, Flächen und Punkten steht im Zentrum der Ausstellung» heisst es auf dem Flyer des aktuellen Kunstprojekts im Steckborner Haus zur Glocke. Aus dem Schaffen von Verbindungen, zwischen Menschen, zwischen Kunstpositionen, zwischen Sparten, daraus zieht die Besitzerin des Haues, Judit Villiger, auch viel Energie für ihre Arbeit.
Mit ihr hat der Kanton Thurgau eine Künstlerin ausgezeichnet, die mit ihrem verwinkelten Fachwerkhaus einen Kunst-Denkraum am Rand, in der sogenannten Provinz, geschaffen hat. Das bietet aber gerade jungen Kunstschaffenden aus den Kunstzentren gute Möglichkeiten, sich mit ihrer Kunst im Kontext mit anderen auszuprobieren.
Judit Villigers letzte grösseren eigenen Kunstprojekte sind auch solche, die Verbindung schaffen. Lange hat sie sich mit Adolf Dietrichs beschäftigt. Dabei setzt sie eigene Arbeiten, Zeichnungen, Scherenschnitte, Aquarelle in Beziehung zu Dietrichs Bildern und interpretiert sie neu. Dabei hat sie Dietrichs Blick aufs Berlinger Gärtchen studiert, den sich ändernden Blick des Malers auf das gleiche Sujet. Ihre Forschung «De- und Rekonstruktion des Nachbargärtchens» ist Anfang September im Haus zur Glocke zu sehen. Das beharrliche Dranbleiben und das Arbeiten mit dem, was vor der Tür liegt: In diesen Adolf-Dietrich-Eigenschaften erkennt sich Judit Villiger auch ein wenig selbst.
In gewissem Sinne hat die Thurgauer Kulturkommission dieses Jahr nicht nur eine Künstlerin mit dem Kulturpreis ausgezeichnet, sondern auch einen Kunstort. «Das Haus zur Glocke gibt meiner Kunstauffassung ihre Hülle», sagt die 1966 geborene Künstlerin. Einen «feinen Blick für alles Rätselhafte und Täuschende» habe sie, heisst es in der offiziellen Preismitteilung. Und dieses Täuschende kann Judit Villiger im Gespräch mit hintergründigem Humor entwirren. Dabei redet sie spitzbübisch glaubhaft über ihren Draht zur Kunst. Mit dem Haus zur Glocke hat sie sich vor drei Jahren ihr eigenes Universum eingerichtet. «Wer das Haus betritt, geht nicht einfach an einen Ort, sondern sucht Geschichten, Gegenwart und Aktionen auf», sagt die Kunsthistorikerin Sybille Omlin. Ein Haus also, das fürs Herstellen von Verbindungen taugt.
Judit Villiger, die sich in vielen ihrer Arbeiten selbst immer wieder mit anderen Kunstpositionen und auch mit der Kunstgeschichte auseinandersetzt, könnte niemals eine normale Galerieausstellung bestreiten. «Ich kann nicht auf Kommando Brötchen backen. Kunst einfach produzieren, liegt mir nicht», sagt sie. «Ich sehe Kunst in einem Prozess und nicht in einem Produkt aufgehen.» Das Forschende und das Befragende reize sie. So interessiert sie sich wenig für den Kunstmarkt. «Denn da fehlen oft Inspiration und Engagement, und es werden oft nur Einzeltypen gehypt.»
Judit Villiger ist Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste, wo sie angehende Lehrer auf Gymnasialstufe ausbildet. Pädagogik und Gestaltung gehen hier in der Ausbildung Hand in Hand.
Fast so wie in ihrem «permanenten Kunstprojekt» Haus zur Glocke. Denn mit ihrem pädagogischen Impetus stellt Judit Villiger nicht nur aus, sondern lädt ein zur Reflexion. Ihre Rolle der Künstlerin verschmilzt hierbei mit jener der Kuratorin. Man sieht Kunst, wird aber animiert, Fäden zu spinnen, Verbindungen zu schaffen, Netzen gemeinsamer Ideen und übergreifender Konzepte nachzuspüren.
Mit der dritten Saison scheint Judit Villiger in Steckborn angekommen zu sein. Ihre Arbeit wird hier auch als Arbeit für den Ort wahrgenommen. Die Eisendrahtgebilde von Markus Zeller auf dem leeren Platz nach dem verheerenden Brand 2015, der Steckborn immer noch beschäftigt, mögen Judit Villigers Idee ihres Hauses zur Glocke unterstreichen. Kunst dürfe nicht Elfenbeinturm sein oder ein Feld zur Selbstbeweihräucherung, sagt Judit Villiger. «Ich verstehe sie auch als eine Dienstleistung für die Gesellschaft.»
Wie zu Dietrich hat sie ihre Kunst auch in Beziehung zu Arbeiten des Diessenhofener Künstlers Carl Roesch gesetzt. Er hatte sich in den 1930er-Jahren aus Papierschnitzeln und Zetteln aus dem Archiv seine eigene Kunstgeschichte konstruiert. Dieselbe Arbeitsweise adaptiert Judit Villiger für das «Bauen» ihrer «Kunstgeschichte». Sie hat sich ihre eigenen Papierbögen konstruiert. Das eigene Archiv mit Fotos, Erinnerungen, Zeitungstexten und Skizzen zu Kunst werden lassen, da taucht für Judit Villiger jetzt auch die Frage auf, wie sie die analoge Methode eines Carl Roesch in Zukunft in die digitale Art, eigene Bildwelten überraschend neu zu ordnen, überführen wird.
Aktuelle Ausstellung «Körper, Rhythmus, Zahl»: bis So, 1.7.; geöffnet Sa, 16–23, So, 14–18 Uhr (Steckborn, Seestrasse 91); hauszurglocke.ch