Als Gitarristin der Band The Slits gehörte Viv Albertine in den 1970er-Jahren zu den Vorreiterinnen der Punk- Bewegung. Auf der Bühne stehen will sie nicht mehr, etwas zu sagen hat sie aber noch. Nun erscheint ihre Biographie.
Frau Albertine, in den letzten Jahren häufen sich die Autobiographien von ehemaligen Punk-Musikerinnen. Liegt das daran, dass diese Bewegung besonders viel für Frauen getan hat?
Viv Albertine: Vor Punk war es für junge Frauen geradezu undenkbar, selber zur Gitarre zu greifen und eine eigene Band zu gründen. Damals in den 1970er-Jahren hatten junge Frauen keine richtigen Vorbilder. Wenn man wie ich aus der Unterschicht kam, standen einem gerade einmal zwei Berufe offen: Lehrerin oder Sekretärin, das war's.
Ihre Frauenband The Slits wurde auf der Strasse angespuckt und zusammengeschlagen. Was an Ihnen hat solche Attacken provoziert?
Albertine: Damals haben sich The Slits einen eigenen Look aus Schuluniformen, Ballettkostümen und Sadomaso-Accessoires zusammengebastelt. Das hat die Männer stark verunsichert, sie wussten nicht, ob sie uns ficken oder töten wollten. Weil wir uns nicht wie typische Frauen verhalten haben, wollten uns alle von Skinheads bis Bankangestellte an den Kragen.
Wie viele britische Musiker vor Ihnen haben auch Sie eine Kunstakademie besucht.
Albertine: Ein Kunststudium gab Jungs und Mädchen aus allen Schichten die Chance, den Einstieg in die Berufswelt ein bisschen länger hinauszuzögern. Weil an den Kunstakademien Menschen zusammengekommen sind, die ein grosses Interesse an Musik, Kunst und Literatur hatten, haben diese Häuser den Punk auch massgeblich beeinflusst.
Wie stehen Sie den grossen Feiern zum 40. Geburtstag von Punk gegenüber, die diesen Sommer in London stattfinden?
Albertine: Das Ganze ist eine Farce, mit der Touristen nach London gelockt werden sollen. Ich werde mich wie die meisten Bands aus der Punk-Zeit sicher nicht daran beteiligen. In einem gediegenen Ambiente vor einem gesitteten Publikum herumhampeln, das wäre meine Sache nicht. Vielleicht würde ich den Feiern anders gegenüberstehen, wenn das Establishment damals nicht versucht hätte, Punk mit allen Mitteln totzukriegen. Jetzt so zu tun, als seien wir alte Freunde, finde ich schlicht verlogen.
Könnte London je wieder das Epizentrum einer Musikszene wie in den spätern 1970er-Jahren mit Punk werden?
Albertine: Das hoffe ich nicht. Damit in London Punk wieder aufblühen könnte, müssten wir die gleichen Lebensbedingungen haben wie damals in den späten 1970er-Jahren. Und die waren ziemlich schrecklich. Auf der Strasse gab es so viel Gewalt, dass man gar nicht mehr zur Polizei ging, wenn man attackiert oder begrabscht wurde.
Bedauern Sie denn nicht, dass London für kreative Menschen mit einem niedrigen Einkommen unbezahlbar geworden ist?
Albertine: Die Fixation auf grosse Ballungszentren war mir schon immer zu phallisch und für Nostalgie habe ich keine Zeit. Es ist doch wunderbar, wenn wir davon wegkommen, in Metropolen wie London präsent sein zu müssen. Heute kann man irgendwo in Europa leben und trotzdem vernetzt bleiben. Punk bedeutet, mit den Werkzeugen zu arbeiten, die einem gerade zur Verfügung stehen, anstatt den Verlust von besetzten Häusern oder billigem Wohnraum zu bejammern.
Apropos Europa: Sie sind zwar in London aufgewachsen, haben aber Schweizer Wurzeln. Wie stehen Sie zu dieser Herkunft?
Albertine: Meine Grossmutter Frieda ist vor dem Zweiten Weltkrieg mit 16 Jahren und fünf Franken in der Tasche nach England ausgewandert und hat sich allen Widrigkeiten zum Trotz hier eine Existenz aufgebaut. Von ihr habe ich meine Deutschschweizer Durchsetzungskraft geerbt. Ohne die hätte ich es 1976 wohl kaum gewagt, ohne jegliche musikalischen Vorkenntnisse bei The Slits einzusteigen.
Ihr letztes Soloalbum «The Vermilion Border» liegt ganze vier Jahre zurück. Warum ist die Musikerin Viv Albertine verstummt?
Albertine: Weil ich nicht mehr das Gefühl habe, mich in einem Song ausdrücken zu können oder zu müssen. Nicht zuletzt darum konzentriere ich mich heute aufs Schreiben. Es würde der heutigen Musikszene sicher gut tun, würden andere Bands meinem Beispiel folgen und die Gitarre einfach ruhen lassen, wenn sie künstlerisch nichts mehr zu sagen haben.