Kommentar
Hört, hört, Lukas Bärfuss mahnt Deutschland, die Nazis seien nie weggewesen

Analyse zu Lukas Bärfuss’ Vorwurf der deutschen Geschichtsvergessenheit anlässlich seiner Dankesrede für den Büchnerpreis.

Hansruedi Kugler
Hansruedi Kugler
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Der Autor Lukas Bärfuss ist überzeugt, dass Nazis nie weg waren.

Der Autor Lukas Bärfuss ist überzeugt, dass Nazis nie weg waren.

Chris Iseli

Man hätte sich wundern müssen. Da raunte der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss bei der Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt vor versammelter deutscher Prominenz, es habe in diesem Land keine Entnazifizierung gegeben, 99,9 Prozent der NSDAP-Mitglieder seien straflos geblieben – und das Publikum klatschte minutenlang. Offenbar fand niemand den Satz beleidigend, unverschämt oder zu undifferenziert.

Nun ist Lukas Bärfuss weder Politiker noch Historiker, sondern Künstler. Ihn am Massstab von Ausgewogenheit, breiter Faktenauslegung oder diplomatischer Zurückhaltung zu messen, wäre ein Grundirrtum. Ein Irrtum, dem die NZZ erlegen ist, die Bärfuss prompt «unredliche Rhetorik» vorgeworfen hat. Bärfuss habe Deutschland gegen besseres Wissen eine «ungebrochene historische Kontinuität von 1945 bis heute» unterstellt, warf Roman Bucheli dem Schriftsteller vor.

Der Einwand hat Gewicht. Zwar hat Bärfuss den Nazi-Verfassungsrechtler Theodor Maunz genannt, der im Nachkriegsdeutschland Karriere machte, «unter der Woche Demokrat, in der Freizeit Faschist». Weitere Beispiele blieben aber vage: Industrielle, die ihre mit Zwangsarbeit angehäuften Vermögen in der BRD behalten durften und sich dafür bei der CDU mit Spenden bedankten. Es sind keine neuen Enthüllungen.

Nun ist eine Rede keine fussnotengespickte Abhandlung. Bärfuss ist Künstler und als solcher wirkt er durch symbolische Aktionen, kunstvolle Verfremdungen, emotionale Selbstbefragung und intellektuelle Provokationen. Man kann sich dem mit Besserwisserei verweigern. Aber Bärfuss argumentiert kraftvoll aus sich heraus und aus seiner Zeitgenossenschaft mit einer aus seiner Sicht von Krieg und Massenmord getränkten Gegenwart.

Auf diese Gewaltverhältnisse ist er fixiert. Dass dabei leicht grob geschnitztes Pathos entsteht, nimmt er in Kauf. Für seine unschweizerische Unverblümtheit kann man ihn bewundern. Muss ein Künstler das nachdenkliche Differenzieren pflegen? Künstler haben ihr je eigenes Temperament. Bärfuss hat seines in der Rede kritisch dargelegt: Wo immer er in seinen Recherchen auf «eine besonders aparte Perversion» gestossen sei, habe er daraus «eine Szene, ein Kapitel oder einen Absatz möglichst akkurat geformt».

Er stochert gerne in Wunden. Darin ist er ein Geistesbruder der aktuellen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Sie nennt ihr zwanghaftes Interesse an den Irrtümern der Schöpfung ein Entgiftungssyndrom.

Bärfuss hätte würdigen können, dass Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern eine bemerkenswerte Vergangenheitsbewältigung geleistet hat: von den Auschwitz-Prozessen ab 1963 und Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 bis zum Holocaust-Denkmal mitten in Berlin.

Bärfuss hätte das defensive Auftreten Nachkriegsdeutschlands in der Weltpolitik erwähnen können oder Angela Merkels Grosszügigkeit in der Flüchtlingskrise. Zudem war für viele Alt-Nazis irgendwann Schluss mit Karriere. Theodor Maunz musste 1964 als bayrischer Kultusminister zurücktreten, als seine Vergangenheit ans Licht kam. Darauf weist Roman Bucheli zu Recht hin.

Warum trotzdem im Saal niemand gegen Bärfuss protestierte? Vielleicht hatten sich manche an die Büchner-Preis-Rede des Liedermachers Wolf Biermann aus dem Jahr 1991 erinnert. Er äusserte sich angewidert über Aufmärsche von Neonazis, die in Dresden von der sie begleitenden Polizei unbehelligt Sieg Heil! geschrien haben. Soll noch einer sagen, es habe keinerlei Kontinuität der Nazi-Ideologie gegeben.

Unausgesprochen aber schwang in Bärfuss’ Rede sein eigenes Theaterstück mit, das 2018 als Auftragswerk in Mannheim aufgeführt wurde. Es war Helmut Kohl gewidmet. Schon darin hiess es, es habe keine Entnazifizierung gegeben. «Spiegel»-Recherchen hatten nach dem Tod Kohls enthüllt, dass dieser als junger Politiker Spenden des Nazi-Unternehmers Fritz Ries angenommen hatte und das Hilfswerk «Hausser» unterstützte, das für inhaftierte NS-Täter und deren Angehörige Geld sammelte.

Aber Kohl war später vor allem ein Muster-Europäer. Unvergessen das versöhnliche Bild, das ihn händehaltend mit dem französischen Präsidenten Mitterrand 1984 in Verdun zeigte. Den Einheits-Kanzler als Beleg für die fehlende Entnazifizierung auf die Bühne zu stellen, haben Bärfuss viele Kritiker deshalb zu Recht übel genommen.