Hip-Hop
Der Lausanner Rapper Stress sorgt sich um Estland und die Ukraine: «Putin macht mir Angst»

Der Lausanner Rapper Stress hat seine Depressionen überwunden und veröffentlicht sein achtes Album. Die Geschehnisse in der Ukraine verfolgt er mit Sorge.

Stefan Künzli
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Das Velo ist für Stress Sinnbild von Freiheit.

Das Velo ist für Stress Sinnbild von Freiheit.

Freiheit ist das Thema Ihres neuen Albums «Libertad». Wie ist Ihre Definition von Freiheit?

Stress: Für uns Menschen ist das Gefühl der Freiheit wie Luft zum Atmen. Selbst in Diktaturen baut sich jeder seine eigene Freiheit. Ich habe ja meine ersten zwölf Jahre in Estland, damals noch in der kommunistischen Sowjetunion, erlebt. Wir konnten uns nicht frei bewegen, uns nicht frei äussern. Aber schon als Kind habe ich einen Weg gefunden, um mich frei zu fühlen. Auf dem Velo konnte ich mein Bedürfnis nach Freiheit ausleben und stillen. Wie du deine Freiheit lebst, ist nicht von äusseren Faktoren abhängig. Das Gefühl von Freiheit kannst du in dir selbst kreieren.

Ist das auch Ihre Botschaft an die Massnahmenkritiker während der Pandemie?

Durchaus, ich habe den Titelsong «Libertad» während des Lockdowns geschrieben. Meine Botschaft lautet: Hört auf zu streiten. Nicht Masken oder Massnahmen entscheiden über die persönliche Freiheit. Wir sind es, ihr seid es. Unabhängig von der äusseren Situation. Das heisst auch: Niemand kann dir deine Freiheit wegnehmen.

Ist dieses Bild vom Velo nicht eher eine Flucht?

Ja, aber diese Flucht kann dir dieses Gefühl der Freiheit geben.

Fühlen Sie sich heute frei?

Ja, aber gleichzeitig habe ich realisiert, dass diese Freiheit ihren Preis hat. Ich bin froh, dass ich machen kann, was ich liebe. Aber ich habe auch eine Verantwortung. Und für diese Freiheit muss ich viel von mir geben.

Dann ist uneingeschränkte Freiheit eine Illusion.

Genau, die gibt es nicht. Freiheit ist nicht gratis zu haben. Alles im Leben hat seinen Preis.

Sie haben die Sowjetunion noch erlebt. In der Ukraine stehen die Zeichen auf Krieg. Was löst das in Ihnen aus?

Was in der Ukraine passiert, kann auch in Estland passieren. Denn ein Viertel der Bevölkerung in Estland ist russisch, und an der Grenze gibt es Städte mit russischen Mehrheiten. Putin will das sowjetische Imperium unter russischem Namen wieder errichten. Er ist von diesem sowjetischen Denken geprägt und hat es nie abgelegt. Das macht mir Angst. Die Gefahr für das Baltikum ist real.

Zum Glück sind die baltischen Staaten in der Nato.

Ja, das ist der Unterschied. Ein Überfall auf das Baltikum würde wohl Weltkrieg bedeuten. Man kann nur hoffen, dass Putin davor zurückschreckt.

Ihr letztes Album «Sincerement» von 2019 war nicht erfolgreich. Haben Sie eine Erklärung?

Ja, die Leute haben gespürt, dass mit mir etwas nicht stimmte.

Haben Sie deshalb erstmals mit Hit-Fabrikant Georg Schlunegger von «Hitmill» zusammengearbeitet?

Er macht alles für den bestmöglichen Song. Er ist so relaxt und angenehm. Er stellt sich nicht in den Vordergrund. Ich liebe es, mit ihm zu arbeiten.

Er macht aber auch alles für den Erfolg, für den Hit.

Wir hatten schon Hits im Köcher, aber sie tönten nicht so. Weil wir nicht weiterwussten, haben wir Georg angerufen. Nehmen wir zum Beispiel den Song «Bye»: Wir hatten eigentlich alles, aber er klang einfach schrecklich. Georg hat’s mit wenigen Modifikationen geschafft, ihn zum Hit zu formen. Jetzt läuft er in allen Radios und wurde bei Spotify schon über 600000 Mal gehört.

Bei «Hitmill» ist doch eigentlich Fred Herrmann für Rap und Urban Sounds zuständig.

Ja, ich habe auch schon mit Fred gearbeitet. Aber in der aktuellen Situation war Georg Schlunegger der Richtige. Er hat die richtige Mentalität.

Wenn Sie das neue Album mit Ihrem Vorgängeralbum vergleichen. Was ist denn jetzt anders oder besser?

Ich bin anders. Ich war beim letzten Album nicht klar im Kopf. Gezeichnet von meinen Depressionen. Aber ich bereue es nicht. Es ist ein Teil meiner Geschichte, ein Teil meines ­Narrativs.

Haben Sie Ihre Depressionen heute im Griff?

Anfang 2020 war ich auf der indonesischen Insel Sumba. Dort konnte ich mit vielem aus der Vergangenheit abschliessen. Ich bin viel gesurft und konnte wieder Freude am Leben tanken.

Im Juni letzten Jahres haben Sie sich von Ihrer langjährigen Lebenspartnerin Ronja Furrer getrennt. Welche Rolle hat in diesem Prozess die Trennung gespielt?

Durch die örtliche Trennung konnten wir unsere Liebe nicht ausleben. Das hat zusätzliche Unruhe in mein Leben gebracht. Jetzt herrscht Klarheit und darüber bin ich froh.

Ronja war in New York, Sie in Zürich. Das konnte ja nicht gut gehen. Oder?

Vielleicht. Aber die Gefühle waren noch da. Und manchmal hat man auch nicht den Mut, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber es stimmt schon, durch die örtliche Trennung fehlten uns die Möglichkeiten, unsere Beziehung zu entwickeln und zu verbessern. Corona hat die Situation noch erschwert. Wir konnten uns fünf Monate lang nicht sehen.

War die endgültige Trennung auch eine Befreiung?

Wenn eine Liebe auseinanderbricht, ist das immer scheisse. Aber aus heutiger Sicht war es sicher besser.

Haben Sie schon eine neue Freundin?

Ich war ja immer am Arbeiten. Musik ist in meinem Leben omnipräsent, sie ist meine Leidenschaft. Das ist manchmal nicht einfach in einer Partnerschaft. Ich bin glücklich, wie es ist, halte aber sicher die Augen offen.

Haben Sie sich inzwischen mit Estland versöhnt?

Ich war mehrmals in Estland. Zuletzt Ende letzten Jahres. Das Problem ist, dass das Estland meiner Kindheit nicht mehr existiert. All die Dämonen, die mich traumatisiert haben, sind weg. Ich konnte mich an ihnen nicht abarbeiten. Aber ich freue mich für Estland und die Entwicklung der letzten 30 Jahre.

Haben Sie sich mit Ihrem gewalttätigen Vater versöhnt?

Ich habe es versucht, immer wieder. Doch er hat mich am Telefon immer nur beschimpft. Zu einem Treffen ist es nie gekommen. Es hat nicht funktioniert. Aber irgendwann musste ich sagen: Jetzt ist genug.

Wann haben Sie gemerkt, dass die Gründe für Ihre Depressionen in der Kindheit liegen?

In der Psychotherapie.

Sind Sie noch in Therapie?

Im Moment nicht. Aber bei neuen Problemen würde ich nicht zögern. Heute schämen sich immer noch viele Leute. Wenn wir ein physisches Problem haben, gehen wir zum Arzt. Wieso soll ich bei einem seelischen Problem nicht eine Psychologin beiziehen? Wir müssen uns bewusst werden, dass eine psychische Therapie etwas ganz Normales, ganz Alltägliches ist.

Sie sind 44 Jahre alt. Sind Rapper über 40, über 50 glaubwürdig? Hat Hip-Hop eine Altersguillotine?

Ich glaube nicht. Haben Sie den Superbowl gesehen? Eminem wird 50, Snoop Dogg ist 50, Jay Z 52 und Dr. Dre sogar 57 Jahre alt. Es war grossartig. Und sie hatten eine Botschaft: gegen die Unterdrückung von Schwarzen und gegen Polizeigewalt. Das ist entscheidend. Musik ohne Botschaft, nur als Entertainment, war für mich nie eine Option. Wer eine Botschaft hat, bleibt glaubwürdig und aktuell.

Rappen Sie auch noch, wenn Sie 60 Jahre alt sind?

Ich glaube schon. Es ist wichtig, dass man viele verschiedene ­Sachen macht. Das hält jung. Ich habe gerade bei der Musiksendung «Sing meinen Song » mitgemacht, schreibe mit dem Autor Daniel Ryser meine Biografie. Das Wichtigste ist, dass wir wieder auf Tour gehen können.

Ich bin gerade 60 geworden. Kann ich noch mit Rappen beginnen?

Sorry, dafür ist es zu spät (lacht).

Stress: Libertad (Universal). Erscheint am 25. Februar. Fernsehen: Sing meinen Song – Das Schweizer Tauschkonzert. Ab 2.3. auf 3+. Live: 29.4. Presswerk Arbon; 30.4. Mühle Rubigen; 13.5. Kofmehl Solothurn; 14.5. KIFF Aarau; 2.7. Open Air St.Gallen.