Hier pfeift einer auf den Film

Ende November ist die Wurlitzer-Orgel im Kirchgemeindehaus St. Georgen eingeweiht worden. Mit drei Stummfilm- Konzerten darf das bald 100jährige Instrument beweisen, dass es den Soundtrack ebenso beherrscht wie den Psalm.

Andreas Stock
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Berühmte Szenen aus den zwei Stummfilmen, die in St. Georgen zu sehen sind: Das Liebespaar aus «Sunrise» und der legendäre Harold Lloyd in «Safety Last». (Bilder: pd)

Berühmte Szenen aus den zwei Stummfilmen, die in St. Georgen zu sehen sind: Das Liebespaar aus «Sunrise» und der legendäre Harold Lloyd in «Safety Last». (Bilder: pd)

ST. GALLEN. Es gehört mit zu den berühmtesten Bildern der Filmgeschichte: ein Mann mit Hut und Nickelbrille hängt an den Zeigern einer grossen Fassadenuhr, hoch über einer Strasse. Das Bild kennen viele, die den Film nicht unbedingt kennen. Es stammt aus «Safety Last» («Ausgerechnet Wolkenkratzer») von Harold Lloyd. Die Szene ist seit ihrer Entstehung 1923 vielfach kopiert worden.

Die berühmte Szene aus dem Stummfilm-Meisterwerk «Sunrise – AQ Song of Two Humans» von 1927 ist auf andere Weise spektakulär. Ein Paar liegt im Gras am See. Die Frau will ihren verheirateten Liebhaber überreden, seine Gattin zu ertränken und mit ihr in die Stadt zu kommen. Die stille, nächtliche Landszenerie überblendet dann ins quirlige städtische Nachtleben.

Von wegen stumm

Die beiden Filme sind dieses Wochenende im evangelischen Kirchgemeindehaus St. Georgen zu sehen, im Rahmen der 1. St. Galler Stummfilmkonzerte. Zwar zeigt das Kinok regelmässig Stummfilme mit Live-Musikbegleitung – zuletzt im Rahmen des Nordklang-Festivals. Aber in St. Georgen sind die Filme auf einem Instrument zu erleben, das einst speziell dafür entwickelt worden ist. Denn Stummfilme waren ja nie wirklich stumm; immer schon wurden die Aufführungen musikalisch begleitet, sei es von Orchestern oder mit speziellen Kino-Orgeln. Die Wurlitzer haben Pfeifen wie eine Orgel, in den Instrumenten stecken zudem noch halbe Orchester: Xylophon, Glockenspiel, Perkussionsinstrumente, aber auch Strassen- oder Naturgeräusche. Ihre Blütezeit hatten diese Wurlitzer in den 1920er-Jahren in den USA und Grossbritannien, wo sie vielfach zu einer Kino-Grundausstattung gehörten.

«Sensationelles Instrument»

Seit November 2014 besitzt die Kirchgemeinde St. Georgen eine Wurlitzer-Orgel Opus 647 aus den USA – eines von rund einem Dutzend Instrumenten, die es noch gibt. Darum wäre es bedauerlich, die über 90 Jahre alte, fachmännisch restaurierte Orgel würde allein zur musikalischen Begleitung des Gottesdienstes genutzt. Der St. Galler Organist Bernhard Ruchti, treibende Kraft hinter der Orgelbeschaffung, hat die Kino-Orgel-Tradition in den USA entdeckt. Ihm war klar, dass dieses «sensationelle Instrument» auch in St. Gallen wieder als Filmbegleiterin genutzt werden soll. Er gründete mit sieben weiteren Interessierten den Wurlitzer-Verein St. Gallen, der nun – von der Kirchgemeinde finanziell unterstützt – die Stummfilmkonzerte organisiert.

Das Rattern des Projektors

Zum Auftakt konnte mit Richard Hills ein erfahrener Wurlitzer-Organist aus Grossbritannien engagiert werden. Hills ist Mitglied der «Cinema Organ Society», die regelmässig Filmkonzerte in ganz Grossbritannien veranstaltet. «Es gibt auch in den USA eine lebendige Szene, die diese Tradition pflegt», sagt Bernhard Ruchti.

Für das dreitägige Programm wurden bewusst Filme ausgewählt, die aus derselben Zeit wie die Wurlitzer-Orgel stammen, also aus den 1920er-Jahren, wie Salome Guggenheimer vom Wurlitzer-Verein sagt. «Die grösste Schwierigkeit ist es, die Filme überhaupt noch analog zu bekommen.» Den Murnau-Film «Sunrise» leihen sie von von der Cinémathèque Suisse, die Harold-Lloyd-Komödie «Safety Last» wird man hingegen digital vorführen müssen, was Guggenheimer bedauert: «Wir möchten gerne, dass man wie damals den Filmprojektor rattern hört.»

Der komödiantische Atem

Das passt ja nicht nur viel besser zur nostalgisch angehauchten Wurlitzer-Vertonung, Ruchti und Guggenheimer möchten Kindern und jungen Menschen damit auch vermitteln, wie Filmvorführungen anno dazumal waren – bevor es moderne Digitalkinos oder auch Filme auf Computern und Smartphones gab. Bernhard Ruchti erzählt, wie fasziniert kürzlich eine Gruppe mit Drittklässlern war, der er die Orgel vorführte und ihre Geheimnisse zeigte.

Den Abschluss des dreitägigen Programms macht darum am Sonntagnachmittag ein Familienprogramm. Mit Kurzfilmen von Charlie Chaplin und von Laurel & Hardy zeigt sich dann eindrücklich, dass die Filme zwar von Slapstickbildern leben – ihnen aber erst durch eine temporeich-unterhaltsame Musik der komödiantische Atem eingehaucht wird.