Harmonie, Irritation und die Ehre

KREUZLINGEN. Oben im Kunstraum Kreuzlingen irritieren Skulpturen, im Tiefparterre steht Kreuz an Kreuz; oben untersucht Adolf-Dietrich-Förderpreisträger Daniel V. Keller die Funktionalität der Umwelt, unten erinnert Andreas Hagenbach an das Grauen des Krieges – noch beeindruckender.

Dieter Langhart
Drucken
Daniel V. Keller: «Remember Maastricht»; MDF/Epoxy-Sand, 2015. (Bild: Andrea Stalder (Andrea Stalder))

Daniel V. Keller: «Remember Maastricht»; MDF/Epoxy-Sand, 2015. (Bild: Andrea Stalder (Andrea Stalder))

Was für ein Unterschied im Raumgefühl! War der Kunstraum Kreuzlingen samt Tiefparterre bis vor fünf Wochen voller ausgewählter Werke fast aller Preisträger des Adolf-Dietrich-Förderpreises seit 1984, traut sich jetzt Daniel V. Keller mit einer Handvoll Skulpturen und Objekten in die riesige Halle. Füllt sie nicht und füllt sie dennoch aus. Und lässt den Raum mitsamt seinen Werken atmen.

Hat der sechzehnte Preisträger mit Jahrgang 1987 nicht erst die Kunsthalle Arbon bespielt letzten Sommer? «Zufall», sagt Kurator Richard Tisserand, «solches lässt sich nicht immer absprechen.» Ist Keller ein Shooting Star, weil er in Amsterdam und Wien, New York und Los Angeles zu sehen war, bevor er in Arbon seine erste Schweizer Einzelausstellung bestritt?

«Amsterdam ist recht rotzig»

Daniel Keller lächelt: «Ich wollte einfach ins Ausland, aber nicht nach Berlin oder Wien.» Der Süden war ihm zu klassisch orientiert, Amsterdam schien dem Absolventen der Fachklasse für Keramikdesign in Bern gerade richtig: «Die Gerrit Rietveld Academie ist recht rotzig.»

Auch Richard Tisserand winkt ab: «Keller begreift Handwerk als solches, und er macht alles selber.» Die Thurgauische Kunstgesellschaft, die den Förderpreis ausrichtet, hat den Entscheid für Keller so begründet: «Die Inszenierung der Objekte führt bei den Betrachtenden oft zu inspirierender Irritation.»

Mitten im Raum ein Schild aus verzinktem Blech, ähnlich jenen, die an Autobahnen stehen: «Welcome to» steht da – wer wozu willkommen geheissen wird, bleibt offen, ebenso beim Werktitel «Further Encounters». Neben dem Schriftzug eine Grafik und ein Bonsai: Symbol für das Menschengemachte, das jeder Natürlichkeit entbehrt? «Ich will eine Balance finden zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, Harmonie und Irritation», sagt Keller, «und eine Umwelt hinterfragen, in der alles auf Funktionalität ausgelegt ist.» Er weist auf «Minimal Force», den mit Korkimitat überzogenen Keramik-Quader mit abgeschrägten Kanten, der wie ein Tisch auf umgedrehten Veloständern ruht. Um die Materialität von Körper und Oberfläche geht es Keller in «Remember Maastricht», einem mit Epoxy-Sand überzogenen, gut zwei Meter hohen Holzkern, und dem reflektierenden Zickzack-Objekt «Past Corners», das an einen Strassenpoller erinnert, aber mit verkehrter Perspektive unsere Wahrnehmung narrt.

Zeugnisse der Weltkriege

Hinab ins Tiefparterre. Kaum je hat das dunkle, niedere Untergeschoss besser gepasst als zu Andreas Hagenbachs «Nachrichten an den Tag» – wie ein Bunker oder eine Krypta wirkt der karge Raum. Da wirft ein alter Overhead-Projektor ein Angebot der Basler Nachrichten an die Wand: «Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto!» 1921 war das, nach Verdun ging das Abenteuer, 117 Franken kostete es. «Schon Karl Kraus hatte sich über solche Geschmacklosigkeiten echauffiert», sagt der 1964 in Basel geborene Künstler. Seine Installation wirkt wie eine Hommage an Kraus' «Letzte Tage der Menschheit». Hagenbach hat im Elsass endlose Grabfelder fotografiert und projiziert die als Dias gerahmten Schwarzweissnegative Rücken an Rücken an zwei Leinwände, was die gespenstische, surreale Inszenierung des Heldenhaften in den «Gärten der Ehre» noch verstärkt. Die Tonspur vereint drei Quellen: preussisches Zensurhandbuch, Interviews mit betagten Zeitzeugen, im Flüsterton gelesene Tagebucheinträge des jüdischen Philologen Victor Klemperer. «Ehre?», fragt Hagenbach rhetorisch. «Im Krieg war das Zivile ausser Kraft gesetzt.»

Christus ohne Kreuz

Nirgends wirkt Hagenbachs Environment schwer, er lässt die Zeugnisse für sich sprechen. Und lässt dem Betrachter Raum zur Reflexion. Hier ein Lichtpult: «Eilig! Weihnachtsbaum» steht am Boden der Feldpost-Schachtel, daneben das für den kurzen Waffenstillstand 1914 gedachte faltbare Bäumchen. Von den 15 000 sind zwei erhalten geblieben, eines liegt in einem Stadtmuseum in Oberbayern.

Da ein Video. Die Kamera umkreist eine Figur mit emporgereckten Armen, schwenkt zur Strasse, an der sie steht, zu den Stromleitungen am Himmel. Der Christus ohne Kreuz steht in Buhl-Lorraine, wo 1914 die Schlacht von Saarburg war. Gefunden hat ihn Hagenbach zufällig mit Google Street-View.

Dort zwei Tische. Auf ihnen hat der Künstler Fotografien aus der Kriegszeit ausgebreitet, die er auf Ebay fand. Individueller Tod statt Schlachtfeld, Poesie statt historische Aufarbeitung.

Fr 15–20, Sa/So 13–17 Uhr; bis 24.1. kunstraum-kreuzlingen.ch

Andreas Hagenbach: Angebot der Basler Nachrichten, 1921. (Bilder: Andrea Stalder)

Andreas Hagenbach: Angebot der Basler Nachrichten, 1921. (Bilder: Andrea Stalder)