Glamour mon amour
Grosser Bahnhof an Dezembersonntag: «Wieso sagt Fredi Murer hoi zu dir?»

Simone Meier
Simone Meier
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Fredi M. Murer in seinem Atelier in Zürich: Über fünfzig Jahre lang hat er Filme gedreht. Archiv

Fredi M. Murer in seinem Atelier in Zürich: Über fünfzig Jahre lang hat er Filme gedreht. Archiv

Es war an einem der eben vergangenen Dezembersonntage, mein Liebesleben und ich eilten auf den Zug, der Zürcher Bahnhof spie unentwegt Menschen in die Stadt hinaus, die auch an diesem Sonntag tun wollten, was sie schon das ganze Jahr über taten: einkaufen. Sie waren hektisch und trugen schon kurz nach 10 Uhr morgens einen leicht verkrampften Ausdruck im Gesicht, etwa so, als würden sie bereits jetzt in Stress niedergegart.

Nur einer kam uns anders entgegen, ein älterer Herr, er schlenderte einem Zug entlang Richtung Innenstadt, trug einen Kaffeebecher in der Hand und strahlte. Natürlich erkannten wir ihn sofort, schliesslich war er ein Superstar des Schweizer Filmschaffens, eine Legende, wahrscheinlich ist in seinem Alterssegment nur Emil legendärer. Es handelte sich um Fredi Murer, den Regisseur von Filmen wie «Höhenfeuer» und «Vitus». Wir strahlten entsprechend benommen zurück. Ich murmelte etwas, das grüezi heissen sollte, aber wahrscheinlich nur als üz aus meinem Mund purzelte. Er sagte erst «hoi!» und dann «hoppla!», weil der Plastikdeckel seines Kaffeebechers die Balance verlor und zu Boden fiel.

«Wieso sagt Fredi Murer hoi zu dir», fragte mein Liebesleben, «woher kennt ihr euch?» «Tun wir nicht», sagte ich, «jedenfalls sind wir einander noch nie vorgestellt worden. Aber meinst du nicht, wenn man so sagenhaft berühmt ist wie er und davon ausgehen kann, dass einen Abertausende, ja vielleicht Millionen von Menschen kennen, sagt man automatisch zu allen hoi?» – «Weil man denkt oje, ich hab gewiss vergessen, wie der Mensch vor mir heissen könnte, ich sag zur Sicherheit einfach mal hoi», ergänzte mich mein Liebesleben.

Hoi ist immer gut, das klingt zumindest persönlicher als üz, dachte ich, das merk ich mir, schliesslich hab ich die Gewohnheit, sämtliche Namen, die zu Gesichtern gehören, zu vergessen, wenn ich die Leute nicht schon mindestens vier Mal gesehen habe. «Aber», überlegte ich laut, «meinst du, das ist schön, wenn man das Gefühl hat, zu allen hoi sagen zu müssen?» – «Wieso nicht? Alle lieben, verehren und respektieren Fredi Murer. Und sein Hoi klang doch äusserst zufrieden.»

Das stimmte. Insgesamt machte Fredi Murer auf uns den Eindruck eines Weihnachtsbaumes, der gerade den Duft echter Honigkerzen inhaliert und sich darüber freut, dass die Familie, die um ihn herumsteht, «Stille Nacht» endlich einmal richtig schön singt.

Wir stiegen in unseren Zug, fuhren davon, assen sehr nett an einem mittelgrossen, aber tiefen See zu Mittag und fuhren wieder heim. Die Menschen, die Zürich verliessen, waren abgekämpft und mit Tonnen von Dingen beschwert, mit denen sie ihre Liebsten bescheren wollten. Nur ein älteres Paar plauderte angeregt und kümmerte sich um nichts ausser um sich selbst. Es war Peter von Matt, also der weltberühmteste Schweizer Literaturprofessor, und seine Gattin. Entspannt entschwanden sie in einen gemütlichen Abend. Ich wünsche Ihnen allen ebensolche Festtage.