Die Propstei St. Peterzell stellt mit «Nacht und Tag im Taubenschlag» eine Sammlung von 200 künstlerisch kühnen Kinderbüchern der 1970er-Jahre aus – zum Zugreifen und Blättern, zum Spazierengehen in Traum, Utopie, Wirklichkeit.
ST. PETERZELL. Ein echter Warhol thront auf einem der sechs farbig gestrichenen Holzhäuser, die Christian Hörler eigens für die Ausstellung im Dachstock der Propstei St. Peterzell nach Modellen im Toggenburg gebaut hat. «Children's Book» heisst das kleinformatige Werk, schlicht und ergreifend. Tatsächlich darf man gerne danach greifen; das Buch, erschienen im Eigenverlag der Zürcher Galerie Bruno Bischofberger, soll bleiben, was es ist: ein Gebrauchsgegenstand zum Anfassen, kein Objekt hinter Glas. Gewiss, es ist kein durchschnittliches Exemplar der Kategorie «Hartpappen», wie die Bücher aus festem Karton heute im Verlagsjargon genannt werden. Sondern Kunst fürs Kinderzimmer: ein erster Zugang zur Welt der Farben und Formen. Zur Welt überhaupt.
«Nacht und Tag im Taubenschlag», die neue Ausstellung, lässt sich nicht zügig abschreiten, mit wenigen gezielten Blicken erfassen. Sie weckt Assoziationen an häusliche Geborgenheit, mit Teppichen und Hockern, den puppenhausgrossen Buchgestellen. Wer sich als Besucher Zeit nimmt, sich auf einem der weissgestrichenen Schemel niederlässt und zu blättern beginnt, wird nicht mehr auf die Uhr schauen – und grosse Namen entdecken. Natürlich die Brüder Grimm, Hans Christian Andersen, Lewis Carroll, Ludwig Bechstein. Aber auch Schriftsteller und Künstler, die man nicht sofort mit Bilderbüchern in Verbindung bringt: Umberto Eco, Eugène Ionesco, Robert Gernhardt. Andy Warhol, HAP Grieshaber, Kurt Schwitters.
Mehr als zweihundert Kinderbücher aus aller Welt, aus Japan und den USA, aus Deutschland, der Schweiz, dem Baltikum und Russland haben der Kurator Luca Beeler, der Künstler Cédric Eisenring und die Buchgestalterin Carmen Tobler in den letzten Jahren zusammengetragen: viel mehr, als man in einem ausgiebigen Rundgang (will heissen: einer langen, langen Sitzung in wechselnden Nischen) erfassen kann. Im Juni war die ständig weiter wachsende Sammlung ein erstes Mal unter dem Titel «Ratz fatz zauber was – Fairs and Fairy Tales» an der Kunstmesse Liste in Basel zu sehen. In St. Peterzell präsentiert sie sich neu, passend zum grosszügigen Raum unter dem Dach, passend zur dörflichen Umgebung. Begleitend zur Ausstellung gibt es fast jeden Sonntag Lesungen, eine davon mit Eveline Hasler.
Ein Grossteil der gezeigten Bücher stammt aus den Jahren um 1970, einer gesellschaftspolitisch bewegten Zeit, deren Ideen, Hoffnungen und Ängste sich im Kinderbuch faszinierend spiegeln. Etwa Jörg Müllers legendäres «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder Die Veränderung der Landschaft» (1973), das im Stil der naturalistischen Jahreszeitenbücher die hässlichen Seiten der fortschreitenden Zersiedelung offenlegt. Oder Umberto Ecos modernes Märchen «Die drei Kosmonauten», grafisch kühn in der deutschen Ausgabe des Insel-Verlags, heute wieder erhältlich in der Sammlung «Geschichten für aufgeweckte Kinder». Man sieht den Büchern an, dass sie durch viele Hände gegangen sind, sei es im Hausgebrauch mit Kindern, sei es in Bibliotheken, die sie ausgemustert haben.
Abgesehen von einer Einführung auf dem Saalblatt geben die Ausstellungsmacher den Weg durch den Taubenschlag nicht vor. Zwar sind die Bücher locker um die sechs Häuser gruppiert nach Themen wie «Natur und Kultur», «Leben in der Stadt» (darunter der Warhol, aber auch ein Sesamstrasse-Rätselbuch), «Das aufmüpfige Kind», «Mythos und Sage», «Bewohner von Zwischenwelten des Bewusstseins», «Sprachspiel und Lautmalerei». Geordnet freilich sind sie nicht; auch damit erinnert die Schau an Bücherkisten im Kinderzimmer.
Erwachsene können sich mit Titeln aus der Sowjetunion oder aus Japan in die Zeit zurückversetzen, als ihnen die Buchstaben noch fremde Geheimzeichen waren – und sich für einmal aufs Bild, auf die Gestaltung konzentrieren. Kinder können sich wie zu Hause fühlen. Nacht und Tag werden zu kurz sein, das Panoptikum einer Zeit und ihrer pädagogischen Ideen umfassend zu erkunden. Anregend aber ist die Schau in jedem Fall und in vielerlei Hinsicht: als Einladung, Bücher nicht vorschnell wegzugeben; als Erinnerung daran, was in den ersten Lebensjahren Kunstsinn und Weltsicht prägt; als geistreich inszenierter Ausflug in die Kindheit und ihre Utopien.
Bis 18. September. Mi/Fr/Sa 14–17, So 10–17 Uhr. Begleitprogramm unter www.ereignisse-propstei.ch