Der Berner Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti hat mit seinen Gedichten die erstarrte religiöse Sprache aus der Verbrämung geholt. Auch Weihnachten hat er lyrisch interpretiert. Bald 90jährig, lebt Marti zurückgezogen - und zeigt sich im Gespräch streitbar und eigenwillig.
Kurt Marti: In der Bibel findet man zwei gegenläufige Linien zu Gottesbildern: Das Bilderverbot untersagt sie, gleichzeitig kommt sie nicht darum herum. Gott ist Vater, manchmal Mutter, Herr der Geschichte.
Diese Bilder relativieren sich gegenseitig, schliesslich weiss man nicht mehr, welches man sich machen soll.
Marti: Nein, damit wird mit den Bildern aufgeräumt: In diesem wehrlosen Kind begegnet einem Gott. Im Gegenteil von Macht und Herrschaft.
Marti: Weihnachten ist heute sentimental und kommerziell entfremdet, die Wehrlosigkeit des Kindes eignet sich natürlich zur Verkitschung.
Marti: Theologie ist eine Wissenschaft, solange es um das Zergliedern von Sprache und Text geht. Damit kann sie Gott nicht begreifen.
Theologie in der Praxis ist eigentlich angewandte Kunst. Ich habe das dann «Theo-Poesie» genannt.
Marti: Hans Küng ist der einzige, den man heute kennt. Er hat mit dem Weltethos-Thema einen Zipfel des Problems der Globalisierung gepackt. Natürlich: Die Zeiten sind anders als vor fünfzig Jahren, als Karl Barth mitten in der Öffentlichkeit stand. Anders heisst aber nicht, dass heute eine für die Theologie ungünstigere Zeit wäre.
Zur Globalisierung müsste man sagen, dass der christliche Glaube von Anfang an globalisiert war. Ökumene bedeutet ja der «Weltkreis». Dabei stehen aber nicht wirtschaftliche Interessen, sondern der Mensch im Vordergrund. Wer vertritt denn eigentlich die Interessen der Hungernden?
Marti: Man kann sagen: Immerhin setzen die Theologen politisch interessierten Nachwuchs in die Welt.
Marti: Blocher betont immer wieder, er sei Barthianer und habe Barth gelesen. Er legt ihn und Gott autokratisch aus. Das ist die Überbetonung einer Linie, die bei Barth angelegt ist.
Mich hat Barth mit seiner Haltung und seinem politischen Engagement im Zweiten Weltkrieg und in den folgenden Jahrzehnten beeindruckt, er war ein glaubwürdiger SPler.
Marti: Da gibt es eine Anekdote.
Seine Mutter sagte zu ihm: «Warum kannst Du nicht so schreiben wie der Kurt Marti?» Gemeint war: So, dass er nicht alle Leute aufregt.
Marti: Ich war nie in einer Partei. Aber es hiess: Wir wollen nicht einen, der die Studenten «links» indoktriniert.
Es gab kurz zuvor einen Film von Richard Dindo, der mich und Konrad Farner im Gespräch über «Christentum und Marxismus» zeigt. Der lief längere Zeit in Bern - offensichtlich ging mein Verständnis der humanen Seiten des Marxismus den massgebenden Personen darin zu weit.
Marti: Die christliche Vision einer sozial gerechten Gesellschaft liegt auch dem Marxismus zugrunde.
Mit dem real existierenden Kommunismus ist ihm aber dasselbe passiert wie dem Christentum: Er wurde durch die Politik instrumentalisiert. Bei diesem begann die Entwicklung mit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert, als es römische Staatsreligion wurde. Aber es bleibt reformfähig.
Marti: Die Emotionalisierung und die Funktion der Medien spielt dabei eine grosse Rolle. Das ist teilweise perfid, denn es wird ein Greuelbild des Islam entworfen, das sehr unvollständig ist. Das Resultat ist, dass der verängstigte Bürger so stimmt, wie er gestimmt hat.
Marti: Es gab immer mehrere Religionen. Schöpfungsgeschichtlich muss man sagen: Gott ist gegen das Monopol einer Religion.
Das Christentum hat das im Modell der Dreieinigkeit aufgenommen. Darin geht es um Gewaltenteilung, Demokratie, Beziehungsvielfalt, Mitbestimmung.
Marti: Es war ein Anstoss eines Schriftstellerkollegen. Er fragte, was ich so tue, ich sagte: «Vor allem beerdigen.
» In der Berner Nydegg-Gemeinde hatte ich oft zwei bis drei Abdankungen wöchentlich, und ich fragte mich dabei auch, ob ich nur noch Klischees von mir gebe. Die «Leichenreden» waren dann eine Art Überprüfung und Leitlinie meiner kirchlichen Arbeit für mich.
Marti: Wir haben die Bibel als Bekenntnis. Aber die ist natürlich ein weites Feld. Es ist schwierig, die Orientierung von der Schöpfung bis zur Apokalypse und dem Hohen Lied bis zum Jakobusbrief nicht zu verlieren. Hier kann ein Bekenntnis eine Orientierungshilfe sein. Hinzu kommt, dass reformiert sein oft beliebig sein heisst und eine Verständigung über Glaubenssätze dem Abhilfe schaffen könnte.
Marti: Ich stellte fest, dass im altkirchlichen Bekenntnis, dem Apostolicum, das Wort Liebe nicht vorkommt. Dass Gott Liebe ist, wie das Neue Testament sagt, steht nirgends. Das hat mich schon ein wenig gestossen, und der Text beginnt mit: «Ich glaube an Gott, der Liebe ist.»
Marti: Den Glauben an eine individuelle Auferstehung muss man relativieren. Das Neue Testament schweigt sich über das Jenseits aus, Jesus schickt seine Jünger ins Diesseits. Was nachher ist, ist nicht die zentrale Frage des christlichen Glaubens. Als Pfarrer sagte ich immer: Wir sterben ins Jenseits hinein, da ist Gott. Wir können Gott überlassen, was er dort mit uns anstellen wird.
Marti: Das Diesseits. Drei Viertel der Bibel sind völlig diesseitig orientiert, insbesondere das Alte Testament, das besser Erstes Testament genannt werden sollte. Darin gibt es keine Jenseits-Erwartung, sondern eine Weltleidenschaft Gottes.
Interview: Daniel Klingenberg
Copyright für Marti-Gedicht: Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München