Mit seinem Lied «Über den Wolken» ist Reinhard Mey zur Legende geworden. Der Komponist und Kulturmanager Michael Schneider hat ihn in einem grossartigen Buch gewürdigt.
Mit dem Alter und dem Älterwerden hat sich Reinhard Mey im Laufe seiner Karriere immer wieder in seinen Liedern beschäftigt. «50! Was, jetzt schon?», sang er zum Beispiel im Jahr 1992. Und schon 1977 stellte er in «Mein erstes graues Haar» fest:
«Mir ist, als wär’ in meinem Leben eine Tür lautlos zugeschnappt, hinter der helle Räume liegen, die mir ab heut’ verschlossen sind. Da gibt es gar nichts dran zu biegen, jetzt bin ich doch ein altes Kind.»
Davon wird der deutsche Liedermacher am 21. Dezember 2022 wohl nicht singen. An seinem 80. Geburtstag könnte er aber zur Gitarre greifen und «Was will ich mehr» vortragen, die letzte Eigenkomposition auf dem bisher letzten, 28. Studioalbum.
Für den Aargauer Michael Schneider – Kulturmanager, Komponist, ehemals Leiter des Künstlerhauses Boswil und Autor der neuen Biografie – ist dieses Lied «ein bewusstes und vorläufiges Fazit eines Lebens», das Mey so besingt:
«An klaren Tagen kann ich bis zum Glück seh’n /
Ich muss nur ein wenig zur Seite geh’n /
Ein Schritt aus dem Schatten, dann geht mein Blick weit /
In Wahrheit und Klarheit und Dankbarkeit.»
Weshalb wird schon jetzt an diesen Liedpoeten erinnert? Weil Reinhard Mey mit Michael Schneiders Kindheit und Jugend verbunden ist und weil der Autor die Leserinnen und Lesern von «Meylensteine» auf den Geburtstag des Barden einstimmen will. Seine Faszination schildert Schneider so: «Meine Bewunderung war manchmal ambivalent, wenn ich verfolgte, was es Neues gab von Reinhard Mey, und eher das Alte vermisste, denn das neue schätzte. Doch die Zeit wandelt sich, und der Künstler in ihr. Meys Stimme, Meys Botschaft, sie bewegt noch immer, in ihrer musikalischen und dichterischen Reflexion, ihrer Mahnung, ihrer Poesie.» Sein Buch spricht ebenso von Kennerschaft wie von Liebe.
Mit «Meylensteine» ist dem Autor ein Wurf gelungen: Weil er nicht mit einer konventionellen Biografie aufwartet, sondern mit einem Hörführer zu Mey und dessen 363 Liedern, die zwischen 1967 und 2020 auf insgesamt 28 deutschsprachigen Alben erschienen sind. So viele Stücke, denkt man bange und will aufgeben. Lieber nicht, würde man sich doch einer Freude der Extraklasse berauben.
Was bereitet Freude? Schneiders Auswahl von 55 Liedern, die unter anderem für Themen wie Heimat, Flügel, Liebe, Schutz, Fremd, Konsum, Vergänglichkeit oder Selbstporträt stehen. Hinzu kommen Kurzrezensionen von 28 Alben und fünf Zugaben. Klar fehlt zum Auftakt der Hit – «Über den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein» – nicht, aber später wird man im Kapitel «Flügel» zu zwei Liedern gelotst, die das Fliegen und die Freiheit noch konturenschärfer beschreiben: so sehr, dass Mey zum Poeten des Aussergewöhnlichen wird. Die Texte entstehen immer vor der Musik. In «Max, Du bist ein Riese!» geht es um Flügel im übertragenen Sinn:
«Kinder werden als Riesen geboren /
Doch mit jedem Tag, der dann erwacht /
Geht ein Stück von ihrer Kraft verloren /
Tun wir etwas, das sie kleiner macht. /
Kinder versetzen so lange Berge /
Bis der Teufelskreis beginnt/
Bis sie wie erwachs’ne Zwerge /
Endlich so klein wie wir Grossen sind!»
Man müsse Meys Meinung zu den Fesseln von Schule und Gesellschaft nicht teilen, meint Schneider, «um zu konstatieren, dass ihm mit diesen Zeilen nicht nur ein origineller Liedbeginn, sondern ein wunderbares Plädoyer für kindliche Kraft, Visionen und Autonomie geglückt ist».
Das Lied «Lilienthals Traum» widmet Mey dem Flugpionier Otto Lilienthal. Der Sänger beschreibt den letzten Flug am 9. August 1896, bei dem der Himmelsstürmer abstürzt und stirbt. Natürlich könnte Schneider nur den Liedinhalt erzählen und einige Schlüsse daraus ziehen, aber er erzählt eben weit mehr – grade aus der Sicht des Musikers. Die Leserin spürt förmlich das Vergnügen des Komponisten bei der Aufzählung musikalischer Schlüsselstellen. «Der Sänger wird in ‹Lilienthals Traum› von den Berliner Philharmonikern begleitet, was dem Lied eine orchestrale Souplesse und Grandezza verleiht, die ihrerseits wiederum Lilienthals geschichtliche Bedeutung als Flugpionier widerspiegelt.»
Und: «In dem Moment im Lied, in dem der Schritt vom Flughügel hinausgetan wird, in dem sich die mit Baumwolle bespannten Weidenholzflügel und mit ihnen der Mensch in die Luft erheben: In diesem Moment schweigt die Musik kurz ganz. Für einen Moment herrscht absolute Stille, bevor der Sänger mit einem Staunen in der Stimme ansetzt: ‹Du kannst fliegen – (Pause) – ja – (Pause) – du kannst!›, nur zart vom Orchester begleitet, um nur ja die Magie des Abhebens und Gleitens nicht zu zerstören.»
Von Menschen, die abheben, bis zur Grossstadt Berlin, Meys Lebens-Fixpunkt, ist es ein weiter Weg. Dass der Sänger nach der Wende 1989 den historischen Vorgang reflektieren würde, hat Schneider erwartet. Aber: «Für 40 Jahre Berlin benötigt man einen langen Atem. Und so formt Mey die 40 Textzeilen als kunstvoll epische, in sich geschlossene Melodiebögen, die sich in unterschiedlichen Tonumfängen bis zur Oktave und None spannen; die sich heben und senken, bevor ein neuer Gedanke gesponnen wird. Schliesslich: der Refrain. Nach dem riesigen Atem der Strophen, die jeweils eine Epoche einschliessen, ist es nun ein flehender, ein beschwörender, ein erlöster Atem, stufenweise in Spannung ansteigend, dann in Entspannung fallend – ‹das war mein Berlin›.»
Was Schneider beschreibt, will man sofort an der Musikquelle überprüfen und stellt fest, wie trefflich er Meys Lieder charakterisiert: «Die Kinder von Izieu» verwandelt das Schicksal der deportierten jüdischen Kinder in ein bewegendes Memorial, was Schneider so beschreibt: «Der Sänger beginnt mit seiner Stimme allein, als Memento für die verstummten Stimmen der Kinder von Izieu. Und nach zwei Worten ist das Erlöschen des Lebens bereits deutlich, wird mit der Vergangenheitsform die Tragödie unmittelbar ausgesprochen: ‹Sie war’n voller Neugier, sie war’n voller Leben›.»
Was immer man liest und hört, ob «Die heisse Schlacht am Buffet», «Der Mörder ist immer der Gärtner», «Der Bruder», «Annabelle, ach Annabelle»: Michael Schneider spürt Meys feingesponnenen Liedern akribisch und wortgewandt nach. Wohltuend: die Absenz von Adjektiv-Ballungen.
Wenn der Autor über «Erbarme dich» vom «erschütterndsten Lied, das Mey je geschrieben hat» spricht, glaubt man ihm aufs Wort. Es schildert einen Pferdetransport von Litauen nach Sardinien ins Schlachthaus. Erklingen Stimmen, die «Erbarme dich, erbarme dich! Erbarme dich der Kreatur/Sieh hin und sag nicht, es ist nur Vieh!» singen, ist für Schneider die Verwandtschaft zu Johann Sebastian Bachs Arie «Erbarme dich, mein Gott» aus der Matthäuspassion naheliegend. Nicht nur darum liest man «Meylensteine» mit Hochgenuss. Das Schönste ist, dass es nicht beim Lesen bleibt. Hören gehört dazu. Happy birthday, Reinhard Mey!
Michael Schneider: Meylensteine. rüffer&rub, 192 Seiten.