FRAUEN: 6000-mal der Herr

Die Bibel ist für die Theologin Ina Praetorius eine gute Freundin. Dass Frauen darin meist Randerscheinungen sind, ist für sie auch Interpretationssache.

Katja Fischer De Santi
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Katja Fischer De Santi

katja.fischer

@tagblatt.ch

Ina Praetorius, lesen Sie täglich in der Bibel?

Ja. Ich lebe mit der Bibel in täglichen Stillezeiten, sonntags im Gottesdienst und oft auch, wenn ich Texte schreibe. Dieses Buch ist wie eine Art Freundin, mit der ich zusammen wohne. Wir streiten uns, wir versöhnen uns, wir geben einander Ratschläge.

Was gibt Ihnen dieses Bibelstudium?

Allein die Tatsache, dass ich mit Texten umgehe, die 2000 oder mehr Jahre alt sind, schafft eine heilsame Distanz zum Alltag. Gleichzeitig geben die Texte oft überraschende Impulse, auf die ich im Gespräch mit Zeitgenossinnen nicht kommen würde.

Spricht Gott durch die Bibel mit Ihnen?

Die Bibeltexte sind von Menschen geschrieben. Aber sie sind nicht irgendwelche Gelegenheits- oder Werbetexte, sondern in langen Austauschprozessen entstanden. Da steckt viel Geschichte und Lebenserfahrung drin. Was sich da zwischen den Menschen an Wahrheit kondensiert, kann man Gott nennen, ja.

Die Bibel gibt es doch gar nicht. Bei Ihnen im Schrank wird auch mehr als nur eine Bibel stehen?

Einerseits gibt es die vielen Übersetzungen, die man vergleichen kann, um sich dem Sinn anzunähern. Anderseits ist die Bibel tatsächlich nicht ein Buch, sondern eher eine Bibliothek aus vielen verschiedenen Büchern. Gerade diese Vielfalt interessiert mich. Besonders spannend ist es, biblische Texte gemeinsam mit anderen Leuten zu lesen, in verschiedenen Übersetzungen.

Die Bibel ist voller Widersprüche. Machen Bibeltexte Sie nie wütend oder zumindest ratlos?

Klar doch. Alle möglichen Gefühle sind beim Bibellesen erlaubt. Wie in menschlichen Beziehungen. Alles ausser Gewalt ist erlaubt. Ich streite oft mit biblischen Texten, lasse sie ruhen, fange wieder an.

Was antworten Sie einer jungen Frau, die sagt, dass die Bibel ein 2000 Jahre altes, verworrenes Buch sei, geschrieben von Männern über Männer, um die männliche Herrschaft zu zementieren

Diese junge Frau hat weitgehend Recht. Die biblischen Texte reflektieren Zustände, die so widersprüchlich und multikulturell sind wie unsere Gegenwart. Gerade deshalb sind sie ja so aktuell. Allerdings gibt es da eine zarte Linie, die sich durch die ganze Bibel-Bibliothek zieht. Sie sagt, dass Liebe und gutes Leben letztlich stärker sind als Hass und Tod. Diese Linie aufzuspüren und weiter zu ziehen, darum geht’s.

Gottes Name darf nicht ausgesprochen werden. Trotzdem wird dieser Gott in fast jeder Bibel ständig mit Herr angesprochen.

Ja, ungefähr 6000-mal. Das ist angesichts der Vielfalt von Gottesnamen nicht nur verkehrt, sondern auch unglaublich langweilig. Mich wundert es nicht, dass viele Leute das Interesse an den Kirchen verlieren, wenn sich da so wenig bewegt.

Kann man aus der Bibel ein feministisches Buch machen, wenn man sie nur genug lange studiert?

Ein interessantes, befreiendes Buch, ja.

Ist alles in der Bibel Interpretationssache?

Um das Potenzial der Bibel zu entdecken, muss ich mit ihr leben. Da geht es nicht drum, ein paar isolierte Weisheiten rauszupicken, die dann jederzeit und überall «richtig» oder «falsch» sind. Insofern ja: mit der Bibel zu leben ist ein Interpretationsweg, der wohl nie endet.

Das würde aber auch bedeuten, dass die Bibel kein Buch fürs gemeine Volk ist?

Was heisst schon gemeines Volk. Es geht nicht darum, wie gebildet oder intellektuell jemand ist. Es geht darum, ob er oder sie neugierig ist und sich auf einen Weg einlassen will. Vielleicht ist dieser Anspruch elitär. Sei’s drum.

Was bedeutet ihnen Weihnachten?

Weihnachten ist die kollektive Freude darüber, dass immer wieder Neues in die Welt kommt. Das menschliche Zusammenleben erneuert sich ständig: dadurch, dass Menschen geboren werden. Allerdings gibt es da noch viel zu tun, denn die Kirchen, als patriarchale Organisationen, machen seit Jahrhunderten einen grossen Bogen um die Tatsache, dass wir alle als blutige, schleimige, abhängige Winzlinge durch weibliche Körper in die Welt gekommen sind. Das ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass die Kirchen oft so unbedeutend sind.

Und darum stürzen wir uns in eine Konsumschlacht?

Es ist ganz normal, dass wir am Fest der Geburtlichkeit ein bisschen spinnen, also vielleicht auch mal zu viel schenken oder essen. Nicht normal ist der Kapitalismus, der diese überströmende Begeisterung ausbeutet.

Welche Bibelstelle werden Sie am 24. Dezember lesen?

Das entscheide nicht ich, sondern die Kirchgemeinde Mittleres Toggenburg.