Kino Mit «Chrieg» hat Simon Jaquemet vor zwei Jahren für Furore gesorgt. Nun fühlt das Basler RegietalentFreikirchen auf den Zahn. Ein Blick hinter die Kulissen seines neuen Kinofilms «Der Unschuldige»
«Mehr Kraft», fordert die Regieassistentin von den rund 130 Statisten, die sich vor einem grossen, leuchtenden Kreuz versammelt haben. Die Filmszene, die soeben gedreht wird, spielt in einem christlichen Zentrum. In der vordersten Reihe wird eine Frau vom Pfarrer behutsam aufgerichtet. «Ruth ist Teil eurer Gemeinschaft, es geht ihr sehr schlecht. Euer Gesang kann ihr helfen.» Dann erklingt wieder die Melodie, und die Statisten stimmen, jetzt mit deutlich mehr Inbrunst, «Amazing Grace» an. Ein Song, der Heilung verspricht.
«Ich bin überhaupt nicht religiös aufgewachsen», sagt Simon Jaquemet, «gerade deswegen hat mich dieses Thema interessiert.» Der Basler Filmregisseur, der 2015 mit seinem Debüt «Chrieg» in der Schweizer Filmszene und an internationalen Festivals für Furore gesorgt hat, nimmt sich während der Mittagspause Zeit, um mit der «Nordwestschweiz» über seinen neuen Film zu sprechen.
Handelte «Chrieg» noch von vier wütenden Jugendlichen auf einer Alp, steht nun in «Der Unschuldige» eine erwachsene Frau im Mittelpunkt: Ruth (gespielt von Judith Hofmann) lebt mit ihrem Ehemann und den zwei Kindern in einer gläubigen Gemeinde irgendwo in der Agglomeration. Wieder richtet sich Jaquemets filmischer Blick auf ein verstörtes Seelenleben: Als Ruths Ex nach einer 20-jährigen Gefängnisstrafe plötzlich wieder auftaucht, stürzt die Frau in eine tiefe Sinnkrise. Jaquemet will nicht zu viel verraten. Wie stark Ruth leidet, ist aber jeder Szene anzuspüren, die an diesem Tag gedreht wird.
Am Nachmittag sitzt Ruth auf einer Toilette und drückt fest unter ihren Fingernagel. Jaquemet hält mit der Kamera so lange drauf, dass es sogar beim Zuschauen schmerzt. Dann steht Ruth auf, läuft durch den Vorraum des christlichen Zentrums wieder in den Andachtsraum hinein und auf das leuchtende Kreuz zu. Kein einziger Schnitt liegt dazwischen. Die Kamera schwebt dem Hinterkopf der Hauptfigur nach und entfaltet diese einzigartige Sogwirkung, die schon «Chrieg» so unwiderstehlich machte.
«Ich habe mit Gabriel Sandru zwar einen anderen Kameramann, doch mein Stil bleibt ähnlich», versichert der 38-jährige Regisseur. Jaquemet ist ein äusserst visueller Filmer, auch für «Der Unschuldige» hat er wieder die Szenen aus seinem Drehbuch mit Storyboards illustriert. Vor seinem geistigen Auge existiert bereits der fertige Film. Dessen Finanzierung (Budget: ca. 2,5 Millionen Franken) sei nach dem Erfolg von «Chrieg» fast hürdenlos verlaufen, Jaquemet konnte neben dem Bund und der Zürcher Filmstiftung auch SRF, Teleclub sowie die deutschen Sender Arte und ZDF für sein Projekt gewinnen.
Seine Recherche führte den Filmemacher direkt in verschiedene Schweizer Freikirchen. «Die sind recht offen, du kannst am Sonntag einfach rein. Ich ging regelmässig hin, über Monate, und hatte irgendwann meine Hauptkirche.» Dort habe er das leuchtende Kreuz gesehen, erzählt Jaquemet, der für seinen Film dann eine Kopie anfertigen liess. Was er nicht wusste: Die Räumlichkeit für seinen Dreh, die er schlussendlich gleich gegenüber vom SRF-Hauptgebäude in Zürich Oerlikon fand, wird hin und wieder tatsächlich für freikirchliche Versammlungen verwendet. Jaquemet sprach während seiner Recherche auch mit verschiedenen Priestern. Einer von ihnen habe dann zwar sein Drehbuch kritisiert, weil gewisse theologische Aspekte «nicht ganz richtig waren». Doch die Inputs seien sehr hilfreich gewesen, so der Regisseur – der zugibt, dass er zu Beginn wohl noch ein «klischeemässiges Bild» von Freikirchen hatte.
Was ihn in diesem Milieu am meisten interessiert habe, sagt Jaquemet, sei
das Wirklichkeitsbild religiöser Gemeinschaften. «Sie geben sich modern und aufgeschlossen, aber wenn man genauer hinsieht, merkt man, dass bei ihnen eine Verschiebung stattfindet, sie leben in einer Art magischer Realität.»
Die letzte Szene, die an diesem Tag gedreht wird, macht das besonders deutlich: Ruth steht mit dem Rücken zum Kreuz und blickt auf die Glaubensgemeinschaft: «Ich habe gesündigt und den Teufel in mein Leben gelassen», flüstert sie ins Mikrofon. «Danke, mein Vater, dass du mich in der dunkelsten Stunde wieder ans Licht geführt hast.» Ruth fällt darauf in eine Art Sprechgesang hinein, reiht unverständliche Silben aneinander. Zungenrede nennt sich das, Ruth geht in die Knie und lässt ihre Stimme vom Geist lenken. Eine faszinierende, verstörende, beklemmende Szene.
Simon Jaquemets grosses Anliegen ist es, sein Thema differenziert zu bearbeiten. Der Priester (Urs-Peter Wolters) in seinem Film habe schon etwas von einem Guru und die Glaubensgemeinschaft etwas von einer Sekte; und seiner Protagonistin sei auch nicht ganz geheuer, wie die Gemeinschaft mit ihr umgeht. «Doch bei diesen Leuten passiert nichts aus schlechtem Willen, sondern aus der Überzeugung, das Richtige zu tun.» Eine moralische Verurteilung, ein cineastischer Fingerzeig, das sei langweilig. Was Simon Jaquemet spannender findet, «ist die Ambivalenz, die Unsicherheit an solchen Orten. Sie möchte ich spürbar machen.»
Der Unschuldige (CH 2017) Regie:
Simon Jaquemet. Voraussichtlicher Kinostart Frühling 2018.