Das berühmteste Kino-Kindermädchen ist zurück: Ein Besuch beim Dreh von «Mary Poppins Returns».
Es ist noch nicht einmal Mittag, als in einer der acht Hallen der Shepperton Studios, wo an diesem Tag der Film «Mary Poppins Returns» gedreht wird, die Dämmerung hereinbricht über einen verlassenen Park mit Bäumen, Gaslampen und einem Brunnen. Das Kindermädchen Mary Poppins und die ihm anvertrauten Zöglinge mischen sich unter die tanzenden «Leeries», die Männer, die früher die Gas-Strassen-Lampen anzündeten. «Ihr seht alle wunderbar aus!», ruft Regisseur Rob Marshall ihnen ermunternd zu. «Ihr habt’s im Griff – wir machen’s gleich noch mal: Und Playback!»
«Trip a Little Light Fantastic» dröhnt wieder aus den Lautsprechern. Der siebenminütige Song ist mit bis zu fünfzig Performern – inklusive Parkour-Stunt-Fahrern auf BMX-Velos – die grösste Nummer im Filmmusical «Mary Poppins Returns», das nächste Woche in die Kinos kommt. Alle Musical-Nummern im Film sind neu, haben aber ein Pendant im berühmten «Mary Poppins»-Film von 1964: «‹Trip a Little Light Fantastic› ist unsere Version der Kaminfeger-Nummer ‹Step in Time›», erklärt Hauptdarstellerin Emily Blunt, in voller Mary-Poppins-Montur gekleidet, zwischen zwei Aufnahmen. «Es ist klassisches Kino, wie ich es wohl noch nie gedreht habe, und ich kriege auch nach fünf Tagen noch Gänsehaut, wenn ich dem Ensemble zuschaue. Man hebt irgendwie automatisch mit ab.»
Das Pendant zum Kaminfeger Bert, der im Originalfilm von Dick Van Dyke gespielt wurde, ist nun in «Mary Poppins Returns» der Gaslampen-Mann Jack, ein ehemaliger Lehrling von Bert. «Er ist der puerto-ricanische Dick Van Dyke 2.0», sagt der lateinamerikanische Darsteller Lin-Manuel Miranda lachend und leicht ausser Atem. «Wir haben die Nummer fünf Monate lang geprobt. Es ist eine Freude, dass wir sie jetzt endlich aufzeichnen können.»
Gaslampen statt Kamine – was hat sich in «Mary Poppins Returns» sonst noch verändert gegenüber der Version mit Julie Andrews, die im neuen Film nicht mitspielen wollte? Die beiden im Original vernachlässigten Kinder Michael und Jane Banks, um die sich die mysteriöse Nanny Mary Poppins damals kümmerte, sind nun erwachsen. Michael (Ben Whishaw) hat drei Kinder und Jane (Emily Mortimer) engagiert sich als Gewerkschafterin. Der Film spielt während der Wirtschaftskrise in den Dreissigerjahren. Der seit kurzem verwitwete Michael hat finanzielle Sorgen und ist mit den um die Mutter trauernden Kindern Anabel, John und Georgie überfordert. Zeit für Mary Poppins, mit dem grünen Papier-Drachen aus dem ersten Film wieder in die irdischen Gefilde zu segeln und an der Cherry Tree Lane nach dem Rechten zu sehen.
Mary Poppins und Gaslampen-Mann Jack, dem im Gegensatz zu Michael die kindliche Begeisterung für Wundersames auch als Erwachsener erhalten blieb, entführen die Kids in Zauberwelten, in denen beispielsweise das Atelier von Mary Poppins’ Cousine Topsy (Meryl Streep) auf dem Kopf steht oder in denen gemalte Figuren auf einer Schüssel plötzlich lebendig werden.
Mit solch magischen Abenteuern erweckt Mary Poppins die Lebensfreude der Banks-Familie wieder und hilft ihr, die Herausforderungen des wirklichen Lebens mit neuem Optimismus anzugehen. «Mary Poppins räumt mit dem Chaos um uns herum auf und macht alles wieder gut», fasst Emily Blunt ihre seit jungen Jahren gehegte Faszination für die Figur zusammen. «Und gerade heute dürften sich viele Erwachsenen wieder nach so jemandem sehnen.»
Bereits in den Achtzigerjahren hatte Disney unter Jeffrey Katzenberg versucht, Mary Poppins wieder ins Kino zu bringen. «Die Autorin P. L. Travers hatte insgesamt acht Bücher um die geheimnisvolle Nanny geschrieben, aber sie war sehr zurückhaltend, was Verfilmungen anging», erklärt Regisseur Marshall während einer Drehpause.
Wer den Film «Saving Mr. Banks» aus dem Jahr 2013 gesehen hat, mit Emma Thompson in der Rolle von P. L. Travers, weiss auch warum: Walt Disney musste die eigenwillige Autorin persönlich zwanzig Jahre lang beknien, bis sie ihm die Filmrechte zusprach. Die Britin flog als Beraterin zum Dreh, aber das Resultat fand sie trotzdem schrecklich, insbesondere die integrierte Animations-Nummer – damals eine grosse Errungenschaft. Das Beste, was sie auch Jahre später über «Mary Poppins» sagen konnte: «Ich habe gelernt, damit zu leben.»
«Mary Poppins Returns» würde Travers, die 1996 mit 96 Jahren starb, kaum besser gefallen – denn die beiden Musicals sind sich sehr ähnlich (auch eine Animations-Sequenz durfte nicht fehlen). Aber die von Blunt gespielte Poppins kommt der Romanfigur näher. «Ich hatte Mary Poppins auch anders in Erinnerung, als sie im Buch ist», so die Schauspielerin. «Darin ist sie sehr exzentrisch, frech, lustig, eitel – mit viel Stil. Uns war es wichtig, ihre verschiedenen Seiten sowie die menschlichen Momente dieser Superheldin hervorzuheben. Sie hat nämlich völlige Kontrolle, aber tut so, als sei dem nicht so.»
Der Spagat zwischen strenger Gouvernante und abenteuerlustiger Zauberin gelingt Emily Blunt hervorragend. Und die neue Filmmusik dürfte sich auch in den Ohren der Fans von Poppins-Klassikern wie «Supercali- fragilisticexpialigetisch» gut anhören: Die Auftaktnummer «Can You Imagine That?» reisst sofort mit, während das Wiegenlied «The Place Where Lost Things Go» die neue Mary Poppins in Poesie erdet.
Doch auf keinen Fall wollte Rob Marshall einen poppigen Disney-Gassenhauer wie «Let it Go» in seinem Film. «‹Mary Poppins Returns› ist kein modernisiertes Märchen, sondern eine in den Dreissigerjahren angesiedelte Geschichte, verwurzelt in einem klassischen Hollywood-Musical», erklärt der Filmemacher. «Und diesem Stil wollte ich treu bleiben.»
Mit der Besetzung mit Lin-Manuel Miranda schielt der Musical-Spezialist aber doch auch ein bisschen auf ein junges Publikum, das mit Nostalgie noch nicht viel am Hut hat. Miranda wurde nach dem Grosserfolg seines Hip-Hop-Musicals «Hamilton» als Erneuerer am Broadway gefeiert. «In den englischen Music Halls gab es früher die sogenannten ‹Patter Songs› mit schnellen Texten, wohl der damalige Rap», erklärt Marshall. «Und so haben wir für Lin einen Moment während der Music-Hall-Sequenz eingebaut, in der sein Wortspiel-Talent so richtig zur Geltung kommen kann. Aber man darf nicht vergessen: Letztlich muss alles der Geschichte dienen, nicht einem Schauspieler.»
Und diese Geschichte ist zeitlos. Das findet jedenfalls Emily Blunt, deren vierjährige Tochter Hazel ein Fan des Originals ist. Einen Verbesserungsvorschlag hat die Kleine trotzdem angebracht. «Hazel hasst es, dass Mary Poppins im Original am Schluss die Familie wieder verlässt», erzählt die Darstellerin. Ob ihre Filmfigur das in «Mary Poppins Returns» auch tut, sei hier nicht verraten. Zuerst stehen hier im Studio nämlich noch einige Aufnahmen von «Trip a Little Light Fantastic» an. Playback ab!
Mary Poppins Returns (USA, 2018), 130 Min., Regie: Rob Marshall. Ab 20. 12. im Kino.