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Im neuen Kinofilm «Birds of Passage» schickt sich ein Ureinwohner-Stamm an, die erste Drogenmafia Kolumbiens zu werden. Ein bildgewaltiges Meisterwerk, das an Filmklassiker wie «Der Pate» erinnert.
Drogen, Schiessereien, Kolumbien: Wer diese drei Stichworte zusammennimmt, denkt unweigerlich an Pablo Escobar. Doch vom kolumbianischen Kokainkönig der 90er-Jahre, dem die beliebte Netflix-Serie «Narcos» gewidmet ist, fehlt im neuen Film «Birds of Passage» jede Spur.
Das zweistündige Kino-Epos setzt stattdessen Anfang der 70er ein und zeigt, wo die tödlichen Drogenkriege ihren Ursprung hatten: bei den Wayúu, einem Ureinwohner-Stamm mitten in der kolumbianischen Wüste.
«Die Geschichte der Wayúu und der Anfänge des Drogenhandels ist eine tragische», sagt der kolumbianische Filmregisseur und -autor Ciro Guerra im Gespräch mit dieser Zeitung. «Doch wegen der Ereignisse rund um Pablo Escobar erinnert sich heute kaum noch jemand daran.»
Die Wayúu sind mit etwa 250'000 Angehörigen das grösste indigene Volk Kolumbiens. Sie sind auf der Guajira-Halbinsel im Norden des Landes beheimatet. Der 37-jährige Guerra ist in der Nähe aufgewachsen und mit den Geschichten des Stammes vertraut.
Es sind Geschichten von einfachen Bauern, die vor dem Hintergrund des aufblühenden Marihuana-Handels zu Geschäftsleuten wurden – und schliesslich zur ersten Drogenmafia Kolumbiens.
In «Birds of Passage» zeigt Guerra zusammen mit seiner Co-Regisseurin und -Autorin Cristina Gallego diese Entwicklung exemplarisch am Bauern Rapayet (José Acosta) auf. Von dessen grossen Ambitionen zeugt schon die erste Filmszene: Beim traditionellen Yonna-Tanz hält der mittellose Rapayet um die Hand von Zaida (Natalia Reyes) an.
Zaida ist die Tochter der Stammesältesten Ursula (Carmiña Martínez), und diese verlangt ein saftiges Mitgift: 50 Ziegen, 20 Kühe und eine Handvoll wertvoller Halsketten.
Unmöglich? Nicht für den gerissenen Rapayet. Als er ein paar Amerikaner kennen lernt, die grosses Interesse am «wilden Kraut» bekunden, das auf der Plantage seines Cousins wächst, macht Rapayet das Geschäft seines Lebens.
In Ursulas Dorf fahren die ersten Autos ein, bald darauf landen dort auch Kleinflugzeuge, und irgendwann haben die Wohnzelte auf diesem einsamen Stück Wüste einer grossen Villa mit sehr dicken Mauern Platz gemacht.
Der Reichtum von Rapayets Familie hat unter rivalisierenden Wayúu-Stämmen für Neid und Missgunst gesorgt.
«Birds of Passage» ist ein herausragendes, hochspannendes Drogen- und Familienepos, das an Klassiker wie «Der Pate» erinnert. Mit dem Unterschied, dass hier kein allmächtiger Patriarch à la Marlon Brando am längsten Hebel hockt, sondern Grossmutter Ursula.
«Die Wayúu sind eine matriarchale Gesellschaft», erklärt Guerra. «Frauen üben in ihren Stämmen einen grossen Einfluss aus, jede Entscheidung läuft über sie.»
Guerra unterwandert das Mafiafilmgenre weiter, in dem er viele der Gewaltszenen abseits der Kamera geschehen lässt. Von den tödlichen Schiessereien zeugen oft nur die blutigen Körper am Strassenrand.
Er wolle Gewalt nicht glorifizieren, sagt der Filmregisseur. «Wir haben in unserem Land viel Gewalt erlebt. Gewalt ist nicht etwas, das Spass macht.»
Es ist die innere Gewalt, die «Birds of Passage» thematisiert, die Machtgier, die sich wie Unkraut um Rapayets Herz schlingt.
Guerras ethnografisch präziser Blick mündet in Bildern voller Symbolkraft: So wird Rapayet wiederholt von einem Vogel aus den Wayúu-Legenden besucht, den nur er sehen kann und der für grosses Unheil steht – eine poetische Visualisierung seines inneren Konflikts.
Traum und Wirklichkeit fliessen im Film direkt ineinander über. «In Kolumbien ist der magische Realismus keine literarische Erfindung», hält Guerra fest, «sondern eine Art, das Leben zu betrachten.»
Die Vögel aus dem Filmtitel sind vieldeutig, sie meinen auch die Drogenflugzeuge, haben aber auch eine grundlegendere Bedeutung, wie Guerra erklärt: Als «Pajaros», so das kolumbianische Wort für Vögel, wurde in den 50er-Jahren Kolumbiens Militärpolizei bezeichnet, der Begriff sei dann zum Symbol für den Mann mit dem Gewehr geworden.
Und damit zum Symbol für den Niedergang indigener Kulturen. «Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne ist die Geschichte Kolumbiens.»
Es ist ein Konflikt, den Guerra in praktisch all seinen Filmen thematisiert. Sein letzter, «Embrace of the Serpent», zeichnete das Wirken eines Missionars im Amazonas nach und wurde 2016 als erster kolumbianischer Film für den Oscar nominiert.
«Solche Filme», sagt Guerra abschliessend, «sehe ich als Gelegenheit, die Geschichten und die Identität meines Landes zurückzuerobern.»
Birds of Passage (COL 2018): 125 Min. Regie: Ciro Guerra, Cristina Gallego. Ab heute Donnerstag im Kino. ★★★★★