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Das Animationsfilmfestival Fantoche in Baden nimmt den gequälten Seelenzustand der Briten unter die Lupe.
Wenn ein böser Sandmann Jagd auf schlafende britische Kinder macht, ein Pendler in der Londoner U-Bahn von allerlei irren Gestalten umgeben ist und William Shakespeare sich als Clown verkleiden muss, lässt das nur eines vermuten: Es ist etwas faul im Staate Grossbritannien. Diesen Eindruck vermitteln zumindest eine Reihe von Filmen zum Thema Brexit, die ab morgen Dienstag am Animationsfilmfestival Fantoche in Baden zu sehen sind.
«Der Schock sitzt heute noch tiefer als nach der Abstimmung», sagt Jayne Pilling über den im Juni 2016 gefassten Beschluss Grossbritanniens, aus der EU auszutreten. Die britische Historikerin, Animationsexpertin und Gründerin der British Animation Awards hat für das diesjährige Fantoche eine Auswahl von über 30 britischen Kurz- und Langfilmen zum Thema Brexit zusammengestellt und sitzt in Baden auch in der Wettbewerbs-Jury.
Laut Pilling herrscht in der britischen Animationsfilmindustrie derzeit eine grosse Verunsicherung: «Die Animationsstudios befürchten, dass sie etablierte Mitarbeiter verlieren und keine neuen Talente aus dem Ausland mehr anlocken können.» Das wäre verheerend. Laut Pilling ist der Animationsfilm einer der kollaborativsten Kunstbranchen Grossbritanniens, ein Viertel aller Arbeitskräfte in dieser Branche stamme aus der EU.
Dabei habe der britische Animationsfilm schon seit je von äusseren Einflüssen profitiert. «Denken Sie nur an den berühmten Zeichentrickfilm ‹Yellow Submarine› von 1969», sagt Jayne Piller. «Jeder kennt die Musik der Beatles. Aber wussten Sie auch, dass mit Heinz Edelmann ein Deutscher den Film designt hat?» Pilling nennt auch die amerikanischen Quay-Brüder, deren Kurzfilm «Street of Crocodiles» am Fantoche zu sehen sein wird und denen Pilling ein «komplett europäisches Gedankenuniversum» attestiert.
Aber klar: Denkt man an britische Animationsfilme, dann denkt man vor allem an «Wallace & Gromit» und andere Werke der Aardman Studios. Das berühmteste der britischen Animationshäuser räumte vor allem in den 90er- Jahren (Pilling: «unser goldenes Zeitalter») mit seinen spassigen Knetfiguren-Filmen alle wichtigen Auszeichnungen ab, inklusive mehrerer Oscars. Indes: Am Fantoche, verspricht Pilling, wird nicht nur die süsse und knuddelige Seite von Aardman zum Vorschein kommen: «Die Aardman-Filme, vor allem die früheren, verstanden sich immer auch als beissende Kommentare über die britische Gesellschaft.»
Das sei laut der Expertin das grösste Verdienst von Aardman: Das Studio habe demonstriert, dass Animationsfilme auch ein erwachsenes Publikum ansprechen können – und beeinflusste die Branche damit auch weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus.
Sozialkritik ist heute einer der Eckpfeiler des britischen Animationsfilms. Beim Vorbetrachten eines Teils des Fantoche-Brexit-Programms fällt der «Nordwestschweiz» auf, wie richtiggehend düster und zynisch einige der Filmstoffe sind. «The Sandman» von Paul Berry beispielsweise erzählt von einem Jungen, der sich abends unter seiner Bettdecke verkriecht – aus Furcht vor dem Sandmann. Dieser erscheint dann auch wirklich, in Form eines gefiederten Dämons mit Hexennase, Hakenkinn und langen Fingern, mit denen der Sandmann dem Kind die Augen auspflückt.
Der Brexit als Schreckgespenst, der dem Nachwuchs die Sehkraft raubt: Berrys zehnminütiger, erschreckender Kurzfilm erschien zwar bereits 1991, nimmt vor dem Hintergrund des Brexits aber völlig neue Bedeutungen an. «Ich finde es total faszinierend, wie man Filme Jahre später plötzlich mit ganz anderen Augen betrachten kann», sagt Jayne Pilling. Was das angeht, werde «The Sandman» am Fantoche kein Einzelfall sein, tönt die Kuratorin an.
Aber keine Sorge, am Badener Animationsfilmfestival wird nicht alles so pechschwarz sein. Pilling hat ihr Brexit-Programm auch mit vielen lustigen und versöhnlichen Filmen gespickt. Unser Favorit: «Moving On (James)» von Ainslie Henderson. Dieser erzählt von einem alten Mann, der stirbt, und einer jungen Frau, die ausgelassen tanzt. Der Clou: Die Filmfiguren sind ganz aus Wolle und ihre Fäden miteinander verbunden. In zweieinhalb poetischen Minuten lässt uns der Film spüren, dass auf jedes Ende ein neuer Anfang folgt. «Diesen Film schaue ich, wenn ich deprimiert bin», sagt Pilling. Das ist Kino in seiner reinsten Form: als Licht an einem dunklen Ort.