Die vergangenen Tage in Cannes gingen an die Nerven und an die Nieren: Der rote Teppich wurde nach dem Regen zum roten Schwamm und Stars ohne aktuellen Filme nutzten den Parkett für Werbung in eigener Sache.
Bling, und weg waren die Juwelen. Schmuckdiebe haben am Wochenende Chopard um jene kostbaren Stücke erleichtert, die sonst von Stars und Sternchen auf dem roten Teppich in Cannes spazieren geführt werden. Immerhin, zum Worst Case kam es nicht. Oscarpreisträgerin Jennifer Lawrence («Silver Linings Playbook») konnte noch rechtzeitig fürs glamouröse Treppensteigen an der Croisette mit Chopard-Schmuck aus- bzw. nachgerüstet werden.
Auffällig dabei ist dreierlei: Erstens mutierte der rote Teppich nach tagelangen Regengüssen zum roten Schwamm. Zweitens nutzten Stars wie Lawrence oder Keanu Reeves das Filmfestival zwar für Kurzpromotionen in eigener Sache, hatten aber keine aktuellen Filme im Gepäck (was darin gipfelte, dass anstelle traditioneller US-Blockbuster am Wochenende französische Bedächtigkeiten serviert wurden). Und drittens wollte es der Zufall, dass der Chopard’sche Juwelenraub zeitlich fast mit der Premiere von Sofia Coppolas Film «The Bling Ring» zusammenfiel.
Coppola, die «nur» in der Nebensektion «Un certain Regard» antritt, führt in «The Bling Ring» eine Jugendbande vor, die vor vier Jahren die Adressen von Paris Hilton oder Lindsay Lohan ergoogelte und anschliessend deren Villen um Juwelen und Markenkleider erleichterte. Wenn bei Coppola ein gesichtsloser Teeniehaufen angesichts immer neuer Markenreichtümer 90 Minuten lang «Oh my God!» kreischt und die Eltern ausser peinlichen Friedensgebeten keine Werte vermitteln, verkommt Authentizität bald zu schierer Hilflosigkeit.
Eine Frage bleibt jedoch und taucht auch in Wettbewerbsfilmen immer wieder auf: Was ist mit der heutigen Jugend los? Und was ist mit den Eltern los, die weder mit dem eigenen Nachwuchs noch mit sich selbst zurechtkommen? Ein cleveres Gleichnis dazu hat sich der Franzose François Ozon ausgedacht. In «Jeune & Jolie» schickt er eine 17-jährige Lolita auf einen körperlichen Selbsterfahrungstrip: Die schmollmündige Isabelle (Marine Vacth) verdingt sich ohne ersichtliche Not als Edelprostituierte. Mit dem verdienten Geld kauft sie sich nichts, die Eltern erfahren später alles. Und dann wird der mit psychologischen Finessen und psychiatrischem Feingespür gespickte Film so richtig reizvoll.
«Le passé» wird als Favorit gehandelt
Spannender ist in Cannes die Frage, ob der als Favorit gehandelte Film «Le passé» von Asghar Farhadi die Goldene Palme holt. Der Iraner Farhadi, der mit seinem letzten Film «A Separation» den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann, spielt in seinem französischsprachigen Debüt «Le passé» ein vertracktes Scheidungsdrama durch: Ein Mann kommt vier Jahre nach der Trennung zu seiner Frau (Bérénice Bejo, «The Artist») nach Frankreich und sieht sich postwendend einer Anhäufung emotionaler Komplikationen ausgesetzt. Die Hauptverdächtige ist, nein, nicht der aktuelle Liebhaber seiner Ex-Frau, sondern deren fast volljährige Tochter.
«Le passé» wäre, so er denn gewinnt, der zweite französische Palmensieger in Folge, der von einem Nicht-Franzosen gedreht wurde. Erst 2012 hatte der Österreicher Michael Haneke mit «Amour» abgeräumt. Noch bleibt jedoch Zeit für die Amerikaner, in der zweiten Festivalhälfte das Steuer herumzureissen. Mit den Coen-Brothers (siehe Kontext), Steven Soderbergh, Alexander Payne, Jim Jarmusch und James Gray steht in diesen Tagen eine geballte Ladung grosskalibriger Regieautoren am Start.