FILM: Ein rigider Akt von Selbstbestimmung

«Lady Macbeth» gibt einem historischen Drama eine packend zeitgemässe Neuinterpretation.

Andreas Stock
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Andreas Stock

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«Du hast keine Ahnung, was für einen Schaden du unserer Familie bereiten kannst», faucht Schwiegervater Boris. Wie sich bald zeigen wird, hat lediglich Boris keine Vorstellung davon, was Katherine seiner Familie alles antun kann. Der herrische Schwiegervater hat die aus ärmlichen Verhältnissen stammende junge Frau zusammen mit einem Stück Land für seinen einzigen Sohn Alexander gekauft – in der Hoffnung auf einen Erben. Der Sohn zeigt allerdings keinerlei Interesse an seiner Gattin und verbietet ihr, während seiner vielen Reisen das Haus zu verlassen. So sitzt der Teenager, nicht nur vom Korsett eingeschnürt, vor allem gelangweilt herum und wartet.

Als auch Boris auf Reisen geht, nutzt Katherine ihre Freiheit und erkundet das raue Hochland um die Farm. Sie lernt den ungehobelten Arbeiter Sebastian kennen, dessen rohe Körperlichkeit sie anzieht. Als Boris zurückkehrt, bleibt ihm die libidinöse Revolte Katherines nicht verborgen. Und dann fällt auch der einleitend zitierte Satz.

Schwarze Hausangestellte als Spiegelfigur

Der britische Theaterregisseur William Oldroyd, der hier sein Filmdébut vorlegt, hat mit der Dramatikerin Alice Birch die Novelle «Die Lady Macbeth von Mzensk» von Nikolai Leskov adaptiert. Sie diente unter anderem bereits Schostakowitsch als Vorlage für seine gleichnamige Oper. Birch und Oldroyd versetzen die Handlung von Russland ins viktorianische Nordengland und verpassen der Geschichte eine raffinierte Vergegenwärtigung. Das macht das historische Drama um eine junge Frau, die sich von der Tyrannei der Ehe auf radikale Weise befreit, zu einem messerscharfen, zeitgemässen Stoff. Dabei erweist sich die schwarze Hausangestellte Anna als Antagonistin von Katherine. So sehr wie Katherine ihre Macht und Sprache findet, verliert sie Anna, die als Erste die Affäre der Hausherrin bemerkt.

Oldroyd inszeniert das packende Drama in einer nüchternen, konzentrierten Bildsprache, ähnlich wie vor ihm Andrea Arnold den Brontë-Roman «Wuthering Heights» (2011) oder kürzlich Stephane Brizé mit «Une vie» (2016) eine Maupassant-Vorlage adaptierte. Statt viktorianischer Opulenz sehen wir meisterhaft beherrschten Minimalismus. Die Farbpalette ist beschränkt und entsättigt, die Dialoge knapp und präzis, die Ausstattung auf das Wesentliche reduziert.

Zwischen Verständnis und Abscheu

Die Bilder sind besonders zu Beginn eng geschnitten und auf die Gesichter fokussiert, was die beengende Lebenssituation von Katherine betont. Damit liegt auch die Aufmerksamkeit bei den hervorragenden Darstellern. Insbesondere auf der 21-jährigen Florence Pugh, die in Grossbritannien mit ihrem preisgekrönten Début im Mysterydrama «The Falling» (2014) als hoffnungs­volle Entdeckung gefeiert wurde. Als Katherine bestätigt sie ihr grosses Talent, verkörpert sie diesen rigiden Akt der Selbstbestimmung doch mit einer beängstigenden Glaubwürdigkeit. Als Zuschauer fühlt man sich zwischen Verständnis und Abscheu hin- und hergerissen. Beeindruckend aber auch Naomi Ackie als Anna, Christopher Fairbank als Schwiegervater Boris sowie Cosmo Jarvis als Sebastian; auch er fällt am Ende dem unbändigen Drang nach Liebe und Freiheit von Katherine zum Opfer. Sie alle hatten tatsächlich keine Ahnung davon, wozu diese junge Frau in der Lage sein könnte.

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