Es geht hier nicht um das bisschen Mensch

Dörte Hansen beschreibt ein norddeutsches Dorf und seine Bewohner. Und so sehr auch Land und Leute von Wind und Wetter gezeichnet sind – sein Schicksal teilt es mit vielen Dörfern auf der Welt.

Valeria Heintges
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Dörte Hansen ist keine Autorin der einfachen Charaktere oder der simplen Handlungen. Bei ihr ist alles ein wenig komplizierter, ganz wie das echte Leben. So war es in ihrem Bestseller «Das alte Land», so ist es auch wieder in ihrem fulminanten Zweitling «Mittagsstunde». Allein die Frage zu beantworten, wer denn nun die Hauptperson sei, ist schwierig. Die norddeutsche Landschaft spielt sicher eine Hauptrolle. Mit «Wolken wie Mühlsteine auf durchgeweichten Feldern» und dem «Westwind, der in den kahlen Bäumen randalierte wie ein durchgedrehter Feldherr». Der Norden, das Altmoränenland, «es hatte ewig unter Gletschereis gelegen, es war geschliffen und verschrammt, das bisschen Wind und Regen machte ihm nichts aus». Man ahnt es schon, das ist keine Landschaft, die auf Menschen Rücksicht nimmt. Im Gegenteil: «Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.» Oder ist Hauptperson das (fiktive) Dorf Brinkebüll, mit Kirche, Dorf­laden, Schule, Bauernhöfen und Feddersens Gasthof? Weit mehr jedoch als eine Ansammlung von Häusern: eine Schicksalsgemeinschaft. Man hilft sich, trinkt miteinander, schuftet, um zu überleben, streitet und prügelt sich.

Die Moderne pflügt das Dorf radikal um

Und man deckt einander, als «Dörpsminschen», als Dorfmenschen. Weil es sich gehört und bequem ist. Auch dann noch, wenn der Mann die Kinder prügelt, bis die grün und blau geschlagen kaum noch im Sportunterricht mitturnen können. Ein Ort in einer Landschaft als Haupt­akteur. Gebeutelt vom Wind und vom Sturm der Zeitenläufte. Sönke Feddersen zum Beispiel kehrt erst lange nach dem Krieg heim aus russischer Gefangenschaft. Er hat Mühe, das Kind, das nach sieben Monaten geboren wird, als eine Feddersen aufzuziehen. Brinkebüll ist auch Opfer von Beamtenideen wie der Flurbereinigung, wie die Melioration im Norden heisst: die kleinen Felder, «die wie Kraut und Rüben durcheinanderlagen», werden zusammengerechnet und neu aufgeteilt. Um den Mähdreschern die Arbeit zu erleichtern. Doch erst mit der Zeit, lange nachdem die Landvermesser weg sind, merken die Dorfbewohner, was sie alles vermissen werden. Schlechte Strassen etwa zwangen Autofahrer, vom Gas zu gehen. Jetzt rauschen sie ungebremst durchs Dorf. Büsche, die Traktoren stören, gaben Tieren Heimat. Und mancher Hügel, der in dieser Landschaft herumsteht, verbirgt ein Hünengrab.

Es gibt diese Sorte Mensch in jedem Dorf

Auch die Feddersens und ihr Gasthof spielen grosse Rollen. Sönke, der Gastwirt, Ella, die alles weiss über ihre Gäste. Tochter Marret, «ein Knäuel Mensch, verfilzt, schief aufgerollt. Es gab die Sorte in jedem Dorf.» Ingwer, Marrets Sohn, der mit ihren Schlagern aufwächst, auf den Feldern ständig nach Feuersteinen Ausschau hält und schweren Verrat an Brinkebüll begeht, als er die «hoge School» besuchen und zu den «Studierern» will. Und der jetzt ins Dorf zurückkehrt, weil die Grosseltern Hilfe brauchen. Oder braucht er Hilfe?

Dörte Hansen hüpft beim Erzählen, zwischen Vergangenheit, noch vergangener Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen Hochdeutsch und Platt, das den Übergang ins Englische andeutet, so gezaust und knorrig wirkt wie die Landschaft – und doch Fakten auf den Punkt bringt. Man versteht nicht jedes Wort, aber genügend, um die Einsprengsel schon nach wenigen Seiten nicht mehr missen zu wollen.

Man will vieles in diesem Buch nicht mehr missen. Will die Menschen kennen lernen, die Landschaft beschauen. Und Dörte Hansens Sprache, die will man immer wieder hören. So genau ist sie, so klar, so knapp, so stark. Die Verben malen laut und leise, knarzen und rumpeln, schnacken und singen in jeder Kapitelüberschrift ein neues Lied. Dörte Hansen kann Details ausmalen und im rechten Moment schweigen, sie kann die bärbeissigsten Typen so schildern, dass man sie nicht lieben, aber verstehen kann. Und sie zeichnet die Zeiten so, dass man weiss: Es war nicht alles gut, und es ist nicht alles gut. Aber es könnte vieles besser sein, wenn man sich ein wenig von den Methoden der Alten abschauen würde. Denn sie wissen sich zu behaupten, auch in Zeiten und Landschaften, die jedem zeigen: «Es geht hier nicht um das bisschen Mensch.»