Bier trinken oder die Welt analysieren: Beides ist gleich wichtig in Heinz Helles hinreissendem Roman «Die Überwindung der Schwerkraft». Das Buch hat gute Chancen, den Schweizer Buchpreis zu gewinnen.
Es ist tiefdunkle Nacht. Eben ist der Bruder wortlos gegangen, der Ich-Erzähler setzt sich hin und schreibt ihm einen Brief, den er nie abschicken wird. Dann klingelt es noch mal an der Tür seiner Wohnung. Sofort wirft er sich eine Jacke über und geht auf die Strasse. Obwohl er genau weiss, was ihn erwartet: ein endloser Wortschwall über das Elend der Welt und eine Sauftour durchs Quartier. Als er davon erzählt, liegt diese Nacht jedoch Jahre zurück. Und: Der ältere Bruder ist unterdessen gestorben. Der Erzähler hat ein ähnliches Alter wie der Bruder damals erreicht. Er erinnert sich an die letzte gemeinsam durchzechte Nacht, an die herumirrende Tour von Kneipe zu Kneipe und an die gleichermassen torkelnden Gespräche. So beginnt Heinz Helles dritter Roman «Die Überwindung der Schwerkraft». Das Buch ist kühn und zärtlich.
«Ich habe nie gedacht: Ich will einen Roman über einen verzweifelten Humanisten schreiben», erklärt der Autor beim Treffen in einem Zürcher Café. Heinz Helle hat ein ernstes, etwas verschlossenes Gesicht, in dem, wenn er lacht, überraschende Wärme aufblitzt. Er beginne mit Sprachfragmenten, erzählt er, vor allem aber habe er eine Melodie im Ohr, der er nachgehen wolle. Helle schreibt von Hand und liest sich den Text laut vor beim Überarbeiten. Der US-amerikanische Autor Don deLillo habe einmal gesagt:
«Ich bin jederzeit bereit, mir vom Klang der Sprache Bedeutung aufdrängen zu lassen».
Daran orientiert er sich. Aus den formal ähnlichen, thematisch aber sehr unterschiedlichen Sprachfragmenten hat sich die Geschichte herauskristallisiert. «Es gab den Punkt, an dem ich wusste, dass ich die Gedanken – meine Gedanken – der Figur eines grossen Bruders in den Mund legen will, der Respekt geniesst, aber rücksichtslos ist und nicht immer zurechnungsfähig.» Von da kam er zu seiner eigenen Bruderbeziehung. Heinz Helle hatte einen älteren Bruder, der schwerer Alkoholiker war und vor einigen Jahren gestorben ist.
Die meisten Leute würden mit der Zeit ihre Fragen über das Menschsein, über das Gute und das Böse, über Schuld, Glück und die Welt ablegen, sagt Helle. Die Konstellation mit zwei ungleichen Brüdern habe ihm jedoch erlaubt, noch einmal ganz naive Fragen an sein Denken zu stellen. «Ich konnte den betrunkenen grossen Bruder sagen lassen: Das stört mich trotzdem, das finde ich immer noch ärgerlich, das akzeptiere ich immer noch nicht.» In der Struktur mag das Gespräch an den klassischen philosophischen Lehrdialog erinnern. Allerdings lässt Helle den kleinen Bruder das Gesagte aus der Erinnerung Jahre später aufleben, er gibt die Gedanken des grossen Bruders in der indirekten Rede wieder, kehrt die Lehrsituation damit quasi um.
Thematisch gebe es einen Bezug zu einem Brudergespräch, das ihn in seiner Entwicklung als lesender Mensch tief bewegt habe, sagt Heinz Helle und erzählt von Dostojewskis letztem Roman «Die Brüder Karamasow». Als Aljoscha in diesem Buch ins Kloster gehen will, weil er an das Gute glaubt, erzählt ihm sein grosser Bruder Iwan über fünfzig Seiten lang nur Schreckliches über die Welt. Bis er zur Aussage kommt, das Paradies sei nicht eine einzige Träne auch nur eines gequälten Kindes wert.
Ähnlich gelangt der grosse Bruder in Helles Buch von den Gräueln des Zweiten Weltkriegs und heutigen Kriegen zum Kinderschänder Marc Dutroux. Und von dort zum überraschenden Bekenntnis, dass er sich in eine Prostituierte verliebt hat, mit ihr ein Kind erwartet und dass es ihm egal ist, ob das Kind möglicherweise von einem anderen stammt. Mit dem Versprechen zur selbstlosen Liebe für das Kind erhofft sich der an der Welt Verzweifelnde seine Rettung. Wobei offenbleibt, ob es die Prostituierte wirklich gibt, ebenso wie die wechselseitige Liebe und das ersehnte Kind. Doch spielt das eine Rolle?
Heinz Helle ist Philosoph, mehr noch, Doktor der Philosophie. Er lacht. 2010 hatte er seine Dissertation zunächst abgebrochen und ein Stipendium in New York genutzt, um seinen ersten Roman zu schreiben. Dann besuchte er das Schweizerische Literaturinstitut in Biel und war mit «Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin» 2014 gleich ein erstes Mal für den Schweizer Buchpreis nominiert. Das Debüt handelt von einem Philosophen, der sein Studium abbricht. Sein Zweitling «Eigentlich müssten wir tanzen» stand 2015 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. In der Zwischenzeit hat der heute 40-Jährige seine Doktorarbeit abgeschlossen. Der gebürtige Deutsche, der seit neun Jahren in der Schweiz lebt, befasste sich darin mit dem Bewusstsein. Zum Beispiel mit der Frage, wie weit es einen Unterschied macht, ob man sich das Glück bloss vorstellt oder ob allein schon die Vorstellung vom Glück selbst Glück ist. «Formal sind diese philosophischen Theorien sehr schön», sagt Helle, aber sie könnten die Kluft zwischen dem Gehirn und der Erfahrung nicht überbrücken. «Es braucht die Materie, die Qualität der Erfahrung fehlt.»
Diese Kluft überwindet er in seinem Text. Helle wirft Sätze aus, die sich über Seitenlängen hinweg mit musikalischer Eleganz ausrollen, in die Vergangenheit zurück oder in die Gegenwart greifen und Polaritäten verbinden – Individuum und Gesellschaft, Schuld und Glück, Schrecken und Liebe oder philosophische Gedanken und die Suche nach dem nächsten Bier. Wer sich auf sein Buch einlässt, entdeckt einen hinreissenden Text.
Im Schlussbild hält der Erzähler sein Kind an der Hand und wirft gebrauchte Glasflaschen in einen Recyclingcontainer. Heinz Helle selbst hat eine sechsjährige Tochter. Er muss aufbrechen, um sie im Kinderhort abzuholen. «Ich betrachte meine Tochter nicht mit philosophischem Blick», sagt er, ein solcher Blick wäre viel zu klein. «Wenn ich mit ihr zusammen bin, frage ich mich nicht, was Glück ist. Ich bin einfach da.»
Heinz Helle «Die Überwindung der Schwerkraft», Suhrkamp, 208 Seiten.