Nach der fulminanten Abrechnung mit Albert Camus’ «Der Fremde» schreibt der algerische Schriftsteller Kamel Daoud einen magisch-realistischen Roman: «Zabor» ist ein Buch über besondere Schreibkräfte und den Stillstand im Maghreb.
Viel besser als Religion, wirksamer als jede Medizin: Schreiben als Lebensrettung. In diesem Roman geschieht das tatsächlich. Der junge Aussenseiter Zabor setzt sich an Sterbebetten, schreibt die Lebensgeschichten der Todkranken weiter und überlistet so deren sicher geglaubten Tod. Deshalb gibt es nun in seinem algerischen Dorf auch immer mehr Hundertjährige. Weil niemand stirbt – oder fast niemand.
Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud hat hier eine glänzende Idee und überhöht damit auf existenziell dringliche Weise den Zauber der Literatur. Und er schreibt aus dem Mikrokosmos eines Dorfes eine politische Parabel auf den Stillstand, den Konservatismus in seinem Heimatland – mit dem Charme märchenhafter Erzählweise. Die übergrosse literarische Ambition allerdings schadet dem Buch: Der Roman funkelt zwar mit schillernden Szenen und brillanten Reflexionen, dreht sich aber letztlich zu ausufernd immer wieder um dasselbe Motiv, wirkt deshalb zerdehnt und selbstverliebt. Um einen Drittel hätte man das Buch gut kürzen können, dann wäre einem die Hauptfigur nicht immer wieder mal ein wenig verleidet. Ausufernd und repetitiv aber muss diese Erzählung sein – schliesslich ist das ein Kennzeichen des monologischen Selbstberichts von einsamen Erzählern.
Vor drei Jahren schrieb sich Kamel Daoud mit einem Schlag in die erste Liga der frankophonen Literatur. Er rechnete mit Albert Camus’ existenzialistischem Kultroman «Der Fremde» ab, indem er den Lebensbericht des von der Hauptfigur Meursault ermordeten namenlosen Arabers kraftvoll und zornig erzählte. Die direkte Leseranrede gab dem Buch zusätzliche Dringlichkeit. Direktheit zeichnet auch Daouds neuen Roman aus: Man ist dem Monolog des Erzählers ausgeliefert. Zabor ist ein Verzweifelter, der als manischer Chronist jedes Detail des Dorflebens in seinen Notizheften festhält. 5436 Hefte werden es am Ende sein. Schriftliches sichert die Erinnerung und damit das Überleben, es ist für Zabor aber auch eine aufklärerische Rebellion gegen Tradition und Religion: Denn beides sei nur darauf aus, die Machtverhältnisse zu festigen.
Zabor, der nicht nur heilige Texte runterbeten mag, sondern selbst schreibend die Welt festhält, ist ein Verstossener. Nach dem frühen Tod der Mutter wurde er vom Vater, einem reichen Schafzüchter und Schlachter, aus dem Elternhaus geworfen. Und lebt jetzt mit einer Tante in ärmlichen Verhältnissen. Angefeindet und benötigt, ausgestossen und heimlich verehrt: Kamel Daoud beschreibt Zabor präzis in der verzweifelten Ambivalenz des Intellektuellen, Chronisten und Magiers. Dass ein solcher gerne mal bei Gelegenheit zum Sündenbock werden könnte, kann man lange Zeit vermuten.
Zum Ausgangspunkt von Zabors ausuferndem Erzählen wählt Kamel Daoud das Sterbebett von Zabors verhasstem Vater. Die drei Tage dauernde literarische Todesabwehr ist der rote Faden, von dem aus Zabor zurückblickt: auf seine Kindheit und die Entdeckung seiner Buch- und Schreibmanie, auf seine Liebe zu einer im Patriarchat gedemütigten Geschiedenen, auf das Dorfleben mit den vielen Einzelfiguren. Der Reichtum von Daouds Erzählkunst scheint immer wieder auf. Etwa so: Seine Handschrift sei wie «Adern unter der Haut des schönen Scheins», oder wenn sich Zabor in Robinson Crusoes Papagei Poll wiedererkennt – als Märtyrer gegen das Vergessen. Auch moralische Dilemmas gilt es zu lösen: Was, wenn ihn nicht nur verzweifelte Eltern eines schwer kranken Kindes ans Sterbebett rufen, sondern auch die Angehörigen eines ekelhaft-gewalttätigen Alkoholikers?
Kamel Daoud: Zabor. Roman. Kiepenheuer&Witsch. 379 S., Fr. 32.–