Jubiläum
Wie ein Deutscher «Sex und Crime» nach Lenzburg brachte

Vor 150 Jahren zog die Familie Wedekind nach Lenzburg. Hier begannen die ersten Schritte eines unbändigen Klassenclowns zum künftig weltberühmten Dramatiker.

Heiko Strech
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Mit Freude an Lust und Laster setzt sich Frank Wedekind in seinem Stück «Die Zensur» seine Frau Tilly auf den Schoss.

Mit Freude an Lust und Laster setzt sich Frank Wedekind in seinem Stück «Die Zensur» seine Frau Tilly auf den Schoss.

Bild: Ullstein Bild via Getty

1872, vor 150 Jahren, kaufte der Dr. med. Friedrich Wilhelm Wedekind aus Hannover, Vater des grossen Dramatikers Frank Wedekind, das Schloss Lenzburg. Ein linksliberaler Alt-48er, also der Märzrevolution von 1848. Als Republikaner ein Adelsfeind. Trotzdem thronte er, als Emigrant in den USA zu Geld gekommen, als Schlossherr mit reichlich Gesinde über dem Städtchen Lenzburg.

Vier Esel mussten täglich Wasser für die Eltern Wedekind, die sechs Kinder und die Bediensteten heraufschaffen. Kein grosser Komfort insgesamt. Emilie Wedekind, 27 Jahre jünger als ihr Mann, schmeisst bald den Familien-Betrieb. Es entladen sich starke Spannungen zwischen den Eheleuten. Die Szenen einer Ehe voller Zorn und Schmerz lassen Sohn Frank später bemerken: «Die Ehe ist ausser unserer Geburt und unserem Tod das Unerbittlichste, dem wir Menschen verfallen sind.»

Trotzdem heiratet Wedekind mit 42 Jahren unerbittlich die zwanzigjährige Schauspielerin Tilly Newes. Sie macht mehrere Suizid-Versuche. Nach Auskunft der Töchter Pamela und Kadidja war der schwierige Ehemann allerdings ein märchenhaft guter Vater.

Ein Klassenclown an der Schulbank

Der frühreife Frank hat viel aus den Familiendramen auf der Schlossbühne gespeichert. 1864 als zweites von sechs Kindern in Hannover geboren, besuchte er ab dem achten Lebensjahr die Schulen in Lenzburg, dann die Kantonsschule in Aarau. Schon bald ein Meister im Spiel mit Worten. Sportlich eine Niete, geistig ein Überflieger.

Wedekind kehrt wieder

Wedekind kehrt wieder Das 150-Zuzug-Jubiläum der Familie Wedekind nimmt die Operettentruppe «Die Fledermäuse» zum Anlass für eine musikalische Nostalgie-Revue. In ihrem Stück «AbARTiger Teufelskerl» (nach Heinz Muff) lassen sie die Jugendjahre des künftigen Dramatikers auf Schloss Lenzburg aufleben. Im heiter-satirischen Abend trifft Wedekind auf alte Freunde. Dazu wird ein Dinner serviert. (ray)
AbARTiger Teufelskerl: 29.7., 31.7., 2.8., 3.8. Wirtschaft Niesenberg, Kallern
Reservation (inkl. Nachtessen) per Telefon: 079 217 06 35

Ein Mitschüler schreibt, Frank sei aufgefallen «wegen fortwährenden Unfleisses bei allen Lehrern, Unfuges während des Unterrichts, Trotzes und Ungehorsams gegen die Lehrer, endlich wegen Lügens. Es steckte ein frühreifes Urteil und ein etwas satirisches, ironisches und nicht an Tradition gebundenes Wesen in ihm, das ihn mit der Schule und den Lehrern in Konflikt brachte.»

Frühlings Erwachen spiegelt die ewigen Nöte der Jugend

Trotz, Satire, Ironie, Leiden unter starren Traditionen – sie begleiten Wedekind bis zu seinem Tod. Seine Schulzeit jedoch muss man differenziert sehen, besonders auch gegenüber der gnadenlosen Schilderung des Lehrerkollegiums in seiner ergreifenden Kindertragödie «Frühlings Erwachen» (1906). Um Rektor Sonnenstich scharen sich da die Kollegen Affenschmalz, Knüppeldick, Hungergurt, Knochenbruch, Zungenschlag und Fliegentod. Franks Lehrer waren jedoch keine jugendfeindlichen Deppen, sondern eher fortschrittliche Pädagogen. Und sie übten erstaunliche Toleranz dem jungen Provokateur gegenüber.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Wedekind nicht einfach eigene Lenzburger und Aarauer Schulerlebnisse in der Kindertragödie «Frühlings Erwachen» spiegelt, sondern «ewige» Nöte junger Menschen angesichts Pubertät und Autorität schildert. Zum Vorbild für den suizidalen Moritz Stiefel in «Frühlings Erwachen» nahm Wedekind übrigens seinen Freund Oscar Schibler. Der blieb am Leben. Allerdings wühlte der Doppel-Suizid zweier Lenzburger Schüler Frank grausam auf. Sein anderer Freund, Moritz Dürr, brachte sich um.

Im Publikum beim Zirkus Knie und in der Wagneroper

Wedekinds grosser Freiheitsdrang hätte ihn wohl überall schmerzhaft an Grenzen stossen lassen. Aber an Lenzburg hat er nicht wirklich gelitten. In regem Kultur-Austausch teilten seine engen Freunde und er einander ihr Befinden oft in Gedichten mit. Und da gab es neben der geliebten Mutter noch zwei reife Frauen - die «erotische» und die «philosophische» Tante.

Mit der Apothekers-Witwe Bertha Jahn-Ringier kommt es im verwunschenen Apotheken-Garten zu leidenschaftlichen Begegnungen. Bei der bedeutenden Philosophin Olga Plümacher -als Frau damals ohne jede akademische Chance! – studiert der Teenager Hegel, Schopenhauer oder Nietzsche. Beide Frauen, prägende Lenzburger Portalfiguren seines Lebens gleich den Eltern, hat Wedekind übrigens später rüde fallenlassen.

Die Kleinstadt Lenzburg war kulturell keineswegs Provinz: Das Laientheater brachte etwa «Maria Stuart» oder «Wilhelm Tell» heraus, sogar Wagneropern. Gastspiele des Zirkus Knie vergass Frank nie. Seine Dramen zwischen Tragik und Groteske tragen grellen Zirkuscharakter. In der Tragödie «Lulu» (1913) stellt Schauspieler Wedekind peitschenknallend als Dompteur in rotem Frack eine betörende Frau auf die Bühne: «Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier/ Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.» Dieses «Tier» Lulu steht im Kontrast zu den gesellschaftsverklemmten Menschen für deren Befreiung – auch ihrer Sexualität.

Von Lenzburg auf die Bühnen der Welt

Mit seinen symbolistisch-expressionistischen Dramen voller Sex and Crime, quer zum herrschenden Naturalismus, litt der Provokateur Frank Wedekind lange unter Zensur und Verbot. Musste künstlerisch und materiell elend unten durch. Endlich erfolgreich, stirbt er mit 54 Jahren in München.

Der Theater-Revolutionär hat Brecht und Dürrenmatt befeuert, als virtuoser Bänkelsänger etwa auch den österreichischen Kabarettisten Georg Kreisler. Hinter Wedekinds Stücken stehen nie vergessene Lenzburg-Eindrücke, längst verallgemeinert. Bis hinein in die Gegenwart.

Dazu Friedrich Dürrenmatt: «Ich glaube nicht, dass ein heutiger Komödienschreiber an Wedekind vorbeigehen kann.»