Einen Oscar hat der 83-jährigen kanadischen Schauspieler Donald Sutherland lange nicht bekommen. Gestern bekam er am Zürcher Film-Festival den Lifetime Achievement Award überreicht. Und bedankte sich äusserst humorvoll.
Man weiss es nun aus erster Hand, die unglaubliche Geschichte stimmt: 1962 ging Donald Sutherland in London an sein erstes Vorsprechen für eine Filmrolle. Drehbuchautor, Regisseur und Produzent waren derart begeistert von ihm, dass sie ihn zu dritt anriefen, um ihm das zu sagen. Bekommen aber hat Sutherland die Rolle nicht. Sie suchten mehr einen Next-Door-Guy. Und er sähe nicht aus, als würde er neben irgendjemandem wohnen. Es ist eine von vielen Anekdoten, die der gebürtige Kanadier gestern am ZFF Master erzählte, bevor er am Abend für seine Karriere vom Zurich Film Festival den Lifetime Achievement Award überreicht bekam. Das Erlebnis habe sich in sein Hirn gebrannt, sagte der Schauspieler.
Donald Sutherland sieht tatsächlich nicht aus wie der Typ von nebenan. Und er hat ihn eigentlich auch nie gespielt. Für die eine Generation sind es Filme wie «The Dirty Dozen» (1967) oder «M.A.S.H.» (1970), in denen Sutherland den ersten bleibenden Eindruck hinterliess. Die Antikriegssatire «M.A.S.H.» ist längst Kult. Und dazu hat Hawkeye Pierce, so Sutherlands Charakter, wesentlich beigetragen. Wenn man nicht wüsste, dass er auch anders kann, könnte man denken, er sei auch im wirklichen Leben dieser Lazarett-Chirurg Hawkeye: Dieser Typ kennt nichts; er lässt sich im Operationssaal an der Nase kratzen, frönt den Sinnes- und Leibesfreuden und hat keinen Respekt vor nichts und niemandem, schon gar nicht vor militärischen Autoritäten. Immer Fischerhut und Brille auf und ein schelmisches Grinsen im Gesicht.
Dann aber kommen mit «Klute» (1971) und «Ordinary People» (1980) so ganz andere Rollen, der grosse, starke und weise Privatdedektiv und der liebende Vater. Und immer ist man überzeugt, das ist Donald Sutherland; er wird seine Figur. In der Tat strahlen seine Augen genauso viel Schalk wie Wärme aus. Er ist charmant und witzig, bewegt und beeindruckt mit jeder seiner zahllosen Performances, die er in seiner über 50-jährigen Karriere in 190 Filmen und Fernsehserien gegeben hat. Und das können nicht viele von sich sagen.
Wieso also, fragt sich manch einer, hat es so lange gedauert, bis Donald Sutherland einen Oscar gewonnen hat? Der Ehrenoscar ist sein erster und einziger, dieses Jahr bekam er ihn, und man ist froh, dass die Academy noch rechtzeitig war. Der Mann ist 83 Jahre alt und macht immer noch weiter und weiter. Für Harry Dean Stanton hat es nicht mehr gereicht.
Vielleicht hat es damit zu tun, dass Donald Sutherland, wie Harry Dean Stanton, bald fast nur noch in, wenn auch bedeutenden, Nebenrollen zu sehen war. Die 70er-Jahre waren sicher Sutherlands stärkste Zeit. Die Zeit, in der er auch in Meisterwerken europäischer Regisseure spielte: den trauernden Vater mit hellseherischen Fähigkeiten in Nicolas Roegs «Don’t Look Now» (1973) und im gleichen Jahr, 1976, den ultimativen faschistischen Charakter in Bernardo Bertoluccis «1900» und den affektierten, unglückseligen Giacomo Casanova für Federico Fellini. Auf Sutherlands Frage, wieso er ihn für die Rolle haben wolle, soll der grosse italienische Regisseur geantwortet haben: «Ich denke, Sie haben die Augen eines Onanisten.» Die Zusammenarbeit habe komisch angefangen, habe sich aber im Laufe der Monate zu wahrer Glückseligkeit entwickelt. Er habe immer genau gewusst, was Fellini von ihm wolle. Magie nennt er das.
«Don’t Look Now» und «Fellinis Casanova» zeigen auch sehr schön, wie viel Sutherland für seine Rollen zu riskieren bereit ist. Die wunderschön gefilmte Liebesszene mit Julie Christie sorgte damals für einen Skandal. Und das Liebesballett zum Auftakt von Fellinis üppigem Filmgemälde überzeichnet grossartig.
Auch in «The Leisure Seeker» («Ella & John») aus dem letzten Jahr gibt es eine Liebesszene: Der demente Professor liebt seine krebskranke Frau. Helen Mirren und Donald Sutherland spielen das so einfühlsam und natürlich, dass es Relevanz hat. Der Film braucht die Szene, um die Themen von Liebe und Selbstbestimmung im Alter trotz Krankheit angemessen zu zeigen. Mirren und Sutherland haben nun eine gänzlich andere Herangehensweise an ihre Rollen. Während die Britin am Ende des Drehtags wieder Helen ist, bleibt Sutherland in seiner Rolle. Wenn einem Zuschauer eine Szene perfekt erscheine, dann sei das einfach harte Arbeit, sagt Sutherland. «Man kreiert den Charakter, man kämpft mit ihm, und dann übernimmt er irgendwann.» Das sei nicht immer so. Aber bei Sutherland ist es in den allermeisten Fällen so.
Sicher, nicht all seine Filme sind grosse Filme, aber, wie sagte Whoopi Goldberg bei der Überreichung des Ehrenoscars: «Er hat die Fähigkeit, den Zuschauer dazu zu bringen, schreckliche Menschen zu lieben – weil er sie liebt. Und er hat mir als Schauspielerin gezeigt, zu was ein Schauspieler fähig ist, in all seinen Facetten.» Die Verschmelzung mit seinen Charakteren und deren Vielseitigkeit, Sutherlands Wandelbarkeit, machen ihn zu «einer lebenden Legende des Weltkinos», wie es das Zurich Film Festival formuliert. Und mit der Rolle des Präsidenten Snow in «The Hunger Games» setzt er sein Engagement für politische Filme fort. Es sei ein Kampf gegen Privilegien und Privilegierte, wie ihn Christine Blasey Ford gegen Brett Kavanaugh kämpfe. Es ist seine zweite Breitseite gegen Präsident Trump.