Am 6. Mai 1915 wurde George Orson Welles geboren. Mit herausragenden Arbeiten für Radio, Fernsehen, Theater und Kino definierte er diese Medien. Als Regisseur ist er wie kaum ein anderer für sein unvollendetes Werk berühmt. Und noch erwartet uns sein letztes Meisterwerk.
Das schönste Geschenk zu seinem 100. Geburtstag lässt leider auf sich warten: «The Other Side of the Wind», das letzte Werk von Orson Welles. Es gibt wenige unvollendete Filme, um die sich so ein Mythos bildete. 40 Jahre nach Beendigung der Dreharbeiten soll der Film doch noch das Licht der Leinwand erblicken. 1970 hatte Welles das ambitionierte Werk begonnen, das zwei Filme in einem enthält. Da ist einerseits der alte Regisseure Hannaford (gespielt vom Regisseur John Huston), der Geburtstag feiert, anderseits der Film, den Hannaford dreht. Keiner, der Szenen aus dem Film sehen konnte, der nicht begeistert über ihre Einzigartigkeit war. Komplizierte rechtliche Probleme haben bis jetzt verhindert, dass «The Other Side of the Wind» fertiggestellt werden konnte. Darum löste es letzten Herbst Aufsehen aus, wonach die juristischen Wirren bereinigt und am Feinschnitt gearbeitet werde. Viele hatten gehofft, er werde zum 100. Geburtstag von Welles seine Uraufführung am Filmfestival Cannes erleben. Daraus wird nichts: Unstimmigkeiten zwischen den Produzenten und den Verleihern verzögern eine Veröffentlichung. Doch die Hoffnung bleibt, dass «The Other Side of the Wind» noch dieses Jahr Premiere feiern kann. Wenn nicht zum Geburtstag, vielleicht zum 30. Todestag von Welles, am 10. Oktober 2015.
In mehrerer Hinsicht ist «The Other Side of the Wind» typisch für die Karriere von Welles. Wie bei vielen seiner Arbeiten ergäbe die komplizierte Entstehungsgeschichte selbst einen spannenden Film. Es sei ihm zum Problem seines Leben geworden, Filme zu beenden, sagte Welles einmal. Ein Fluch, der sein Schaffen über seinen Tod hinaus zu verfolgen scheint.
Der amerikanische Regisseur drehte «The Other Side of the Wind» wie fast sein gesamtes Spätwerk unabhängig und mit eigenem Geld, das er sich mit Auftritten als Schauspieler verdiente. «Ich subventioniere selbst meine eigene künstlerische Arbeit. Ich arbeite, um zu arbeiten. Mit anderen Worten: Ich bin verrückt», formulierte er 1975 die eigene ausbeuterische Arbeitsweise. «Ich wollte lieber als Schauspieler ungeliebte Rollen spielen denn als Regisseur ungeliebte Filme drehen. Aber wenn ich könnte, würde ich nur Regie führen.»
Trotzdem: Gerade auch als Schauspieler hat Orson Welles viele Filme geprägt; in über 100 hat er mitgewirkt. Freilich, am berühmtesten ist sein gerade mal zehnminütiger Auftritt in «The Third Man» (1949), dessen expressionistische Schwarzweissbilder mit den langen Schatten auch andere, imposantere Rollen in den Schatten drängte; wie «Jane Eyre» (1943) mit Joan Fontaine oder «Moby Dick» (1956) von John Huston. Sein schwerer Gang, dem er zugleich Grazie verlieh, die theatralische Intonation seiner markanten Stimme – selbst in Nebenrollen drückte er jeder Szene den Stempel auf. In jungen Jahren ausgesprochen attraktiv, später nicht nur ob seiner majestätischen Statur ein charismatisches Schwergewicht, bewunderte man ihn nicht nur auf der Leinwand – auch als Liebhaber war er begehrt.
Verstümmelt, unrealisiert, unvollendet – der Blick auf die Filmregie-Karriere von Orson Welles, die 1940 mit dem Meisterwerk «Citizen Kane» so furios begann, ist die auf eine grandiose Odyssee des Scheiterns. Zwölf abendfüllende Filme konnte Welles vollenden, die im Kino aufgeführt wurden; mindestens so viele blieben unvollendet. Nur fünf waren in Fassungen zu sehen, wie sie von ihm gedacht waren. «Citizen Kane» ist der einzige, bei dem ihm ein grosses Studio vollkommene Freiheit gewährte – da war er 25 Jahre jung. Seine Shakespeare-Filme «Othello» und «Falstaff» («Chimes at Midnight»), seine Kafka-Adaption «The Trial» sowie sein essayistisches Spätwerk «F for Fake» (1973), die er trotz schwieriger Bedingungen unabhängig inszenierte, sind alles aussergewöhnliche Werke der Filmgeschichte, wenn auch zunächst kaum einer ein Publikumserfolg wurde. Bei allen anderen Regiearbeiten, darunter «The Lady from Shanghai» mit Rita Hayworth oder «Touch of Evil» mit Charlton Heston und Janet Leigh – griff man in seine Arbeit ein. Stets zu deren Schaden.
Es gibt Erklärungsversuche, wieso dieser besessene Künstler nicht nur zu den grossen Meistern der Filmgeschichte, sondern auch zu ihren tragischsten Protagonisten zählt. So passte sein Selbstverständnis als Künstler nicht ins Studiosystem Hollywoods. Welles war ein Einzelgänger; er verweigerte sich den Produktionszwängen der Studios. Er wollte mit der Freiheit und Direktheit eines Malers, Schriftstellers oder Alleinunterhalters arbeiten. Schliesslich vereinte er alle diese Talente in seiner Person. Der US-Regisseur Peter Bogdanovich, der ein Interview-Buch mit Welles veröffentlichte, wunderte sich weniger über die zahlreichen unvollendeten Filme als darüber, wie er in diesem kommerziellen Medium überhaupt so viel erreichen konnte, ohne jemals einen wirtschaftlichen Erfolg zu haben.
Orson Welles war ein Wunderkind, das wohl nie erwachsen werden konnte. Bereits als Zehnjähriger gab er Lesungen, veranstaltete er Theateraufführungen und veröffentlichte er eine Zeitschrift, für die er auch die Illustrationen machte. Er trat als Zauberer auf (eine Rolle, die er gerne spielte) und inszenierte als Dreizehnjähriger an der Schule Theateraufführungen, wobei er die Stücke selber bearbeitete, für die Ausstattung verantwortlich zeichnete und meist selbst mitspielte. 1931 verliess er die USA und ging nach Dublin, wo er Theater spielte und inszenierte. Zwei Jahre später kehrte er nach Amerika zurück und begann neben dem Theater fürs Radio zu arbeiten. Und er gründete das legendäre Mercury Theatre in New York. Dessen innovative Produktionen erregten Aufsehen. Ein Theaterskandal war 1937 die Oper über einen Arbeiterstreik, «The Cradle Will Rock», dessen Aufführung verboten wurde. Eine improvisierte Show davon wurde ein enormer Erfolg. Eine trotzige Form des «jetzt erst recht» – Orson Welles versuchte später immer wieder, seine Projekte auf andere Weise gegen Hindernisse und Obstruktionen durchzusetzen.
Dann folgte sein grösstes Lausbubenstück, ein Skandalerfolg, der Mediengeschichte schrieb. Am 30. Oktober 1938 wurde um 20 Uhr wie jede Woche die Radiosendung «The Mercury Theatre on the Air» gesendet, ein Programm mit Hörspielbearbeitungen von und mit Welles. Geschätzte neun Millionen Amerikaner hörten zu, als der Anschein vermittelt wurde, es finde soeben ein Angriff von Ausserirdischen auf die USA statt. Den Roman von H. G. Wells hatte Orson Welles so authentisch bearbeitet, dass Panik und Hysterie ausgelöst wurden. «The War of the Worlds» öffnete Orson Welles und seinem Mercury Theatre alle Türen nach Hollywood.
In seinen Kinoerstling «Citizen Kane» packte Welles dann den ganzen Ehrgeiz, alle Masslosigkeit und alle Lust auf das Medium und dessen Möglichkeiten. Er schuf einen Film, wie es ihn noch nicht gegeben hatte. Journalismus, Politik, Theater, Radio, Malerei – alle seine Erfahrungen damit brachte er ein. Die Freiheiten, die er bekam, lösten Bewunderung und Missgunst zugleich aus. Und viel Häme, als der Film 1941 ein finanzieller Misserfolg wurde. Doch «Citizen Kane» überlebt alle Häme und gilt noch immer als eines der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte. Sein zweiter Film, den Welles für einen seiner besten hielt, wird danach aber nie so zu sehen sein, wie ihn Welles fertiggestellt hatte. «The Magnificent Ambersons» wird radikal gekürzt und ein weniger pessimistisches Ende nachgedreht. «Mit einem Rasenmäher ist man über meinen Film gefahren», klagte Welles.
Man hatte Orson Welles in seinen Möglichkeiten beschnitten, aber seine Kreativität erschöpfte sich bis zu seinem Tod nie. Er war ein begnadeter und leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, der neugierig alle Medien nutzte. Er lotete im Radio ebenso die Möglichkeiten aus wie im Fernsehen und experimentierte auch mit Video. Man darf ihn durchaus als einen Picasso der Massenmedien bezeichnen – einen Maler, den Welles sehr bewunderte. All dies, sowie sein undogmatisches Verhältnis zur Hoch- und Trivialkultur, machte seinen Kampf um künstlerische Anerkennung nicht einfacher. Doch Orson Welles war kein Künstler, der aufgab. Wenn er bei einem Projekt nicht weiterkam, widmete er sich etwas anderem. Das Prozesshafte, das Fragmentarische wurde aus der Not heraus zur Voraussetzung seiner enorm vielfältigen Kunst – auch damit war er seiner Zeit voraus. Darum wirkt sein Schaffen wohl immer noch modern. Inspiriert Orson Welles weiterhin Kunst- und Filmschaffende. Wird seines 100. Geburtstags weltweit mit zahlreichen Veranstaltungen gedacht.