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In einer Neuübersetzung erhalten Edgar Allan Poes «Unheimliche Geschichten» einen zeitgemässen Anstrich.
Er hat sie alle in ihrem Schaffen beeinflusst, damals: Robert Louis Stevenson, Jules Verne, Dostojewski und auch August Strindberg. Ja, sogar die Psychoanalyse Siegmund Freuds. Denn ohne seine Geschichte «Der Gold-Skarabäus» etwa hätte es Stevensons «Schatzinsel» wahrscheinlich ebenso wenig gegeben wie Jules Vernes «Reise zum Mond», die ohne Poes Erzählung «Das beispiellose Abenteuer eines gewissen Hans Pfaal» wohl kaum so entstanden wäre.
Das Werk Edgar Allan Poes, 1809 in Boston als Sohn eines Schauspieler-Paares geboren, markiert den Beginn der sogenannten «modernen Literatur». Mit seinen wahrscheinlich berühmtesten Geschichten «Der Doppelmord in der Rue Morgue» und «Der entwendete Brief» legte er nicht nur den Grundstein für die bis heute auf ihn zurückgehende Kriminalliteratur, sondern beeinflusste darüber hinaus die moderne Horror-Literatur ebenso wie das, was wir als Science-Fiction-Literatur kennen und bezeichnen.
Untrennbar verbunden mit Poes weitreichender, bis heute anhaltender Wirkung als Schöpfer neuer literarischer Gattungen und Genres aber ist der Name des französischen Übersetzers, Kunstkritikers und Verfassers der berühmten Gedichtsammlung «Die Blumen des Bösen», Charles Baudelaire, den man ohne Übertreibung als Geburtshelfer des Poeschen Wirkens bezeichnen darf. Denn Baudelaire, 1821 in Paris geboren, verband vom ersten Moment an eine Art wilder Obsession mit den Poeschen Werken.
Baudelaire, der sich schon als Jugendlicher mit seinen zahllosen inneren Dämonen herumschlug, nachdem sein Vater früh gestorben war, und er das ihm hinterlassene Erbe mit dandyhafter Attitüde unters Volk brachte, muss in den abgründigen Geschichten Poes Trost, Verständnis und elektrisierende Entsprechungen zu seinen inneren finsteren Passionen gesehen haben. Und so setzte er alles daran, den Werken des amerikanischen Kollegen zu Gehör zu verhelfen. Bereits die erste Lektüre von Poes Geschichten 1847 muss der stets von Geldnöten umgetriebene Lyriker als süssen Schock erlebt haben, ja, als eine Art poetischer Verzauberung, von welcher er sich gottlob nie mehr erholen sollte.
Baudelaire, zu diesem Zeitpunkt gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt, fasste spontan den Entschluss, Poes Texte, die schliesslich von Ende 1852 an Stück für Stück auf Französisch vorliegen, selbst zu übersetzen. Und er systematisiert dessen Werk: Er stellt dessen «Detektivgeschichten» neben die sogenannten «Abenteuergeschichten», gefolgt von einer Reihe von Science Fiction-Storys.
Abgerundet wird die von ihm zusammengestellte Sammlung durch phantastische visionäre Seeabenteuer-Geschichten, deren dürre, messerscharfe Sätze wie Sonden in die Psychen ihrer Figuren hinabgleiten. Denn sämtliche Geschichten Poes sind Grenzerfahrungs-Geschichten getreu seinem Motto: «Die Spiegel sind zerbrochen. Aber es reflektieren die Scherben!»
Es sind Storys, in denen die Beschriebenen regelmässig an ihre Grenzen geführt werden – und nicht selten auch darüber hinaus. Das muss sie insbesondere für Sigmund Freud, den Begründer der modernen Psychoanalyse, interessant gemacht haben. Ohne Poes deduktiv analysierenden Detektiv C. Auguste Dupin hätte es Agatha Christies Hercule Poirot und Miss Marple wahrscheinlich ebenso wenig gegeben wie Dashiell Hammetts Sam Spade.
Nun liegen als Band 1 der auf insgesamt fünf Bände geplanten Neu-Ausgabe der Poeschen Werke die 13 seinerzeit von Baudelaire zusammengestellten, übersetzten und von ihm 1856 im Pariser Verlag Michel Lèvy herausgegebenen Poeschen Texte unter dem Titel «Unheimliche Geschichten» in einer Neuübersetzung von Andreas Nohl aus dem Amerikanischen vor. Band 2 wird «Neue unheimliche Geschichten» versammeln, Band 3 «Arthur Gordon Pyms Abenteuer», Band 4 das «Kosmologisches Gedicht «Heureka», und Band 5 «Grotesken und ernste Geschichten».
Man kann den Verlag nur zu dieser editorischen Leistung beglückwünschen. Denn wie Nohl dem abgründigen Charme Poes mit seinen Neu-Übertragungen einen zeitgemässen frischen Anstrich verpasst hat, das ist höchst lobenswert. Zudem wird die Sammlung, die den Auftakt zu einer umfangreichen Neu-Edition der Poeschen Schriften markiert, von erhellenden Anmerkungen und einem aufschlussreichen Nachwort begleitet, das die einstige wunderbare künstlerische Liaison zwischen Poe und seinem glühenden Verehrer Baudelaire bildhaft nachvollziehbar macht.
Mit den Worten «Ich möchte wie eine Kanonenkugel in die Nachwelt einschlagen» hatte der Franzose, der seinerzeit ganz nebenbei auch die Musik Richard Wagners für das französische Publikum entdeckte, dereinst vollmundig seinen eigenen literarischen Anspruch formuliert; tatsächlich aber hatte er bis zuletzt mehr mit seinen zahllosen Gläubigern zu tun, als dass er seine ganze literarische Wirkung hätte entfalten können. Und so verübt er um 1845 sogar einen Selbstmordversuch, um auf diesem Weg den Forderungen seiner Gläubiger zu entgehen.
Zwar druckte die angesehene «Revue des Deux Mondes» achtzehn seiner wichtigsten «Fleur du Mal»-Gedichte, was Baudelaire zu einem kleinen Zwischenhoch verhalf, denn versierte Lyrikkenner realisierten die Bedeutung seiner Dichtungen; «kanonenkugelhaft» aber schlug mit seiner Hilfe Poe ein. Denn in seinen Texten fanden eine literarische Stimme und eine Weltsicht Ausdruck, die für damalige Verhältnisse vollkommen neu waren. Poe machte den Tod als literarisches Sujet mit seinen stilprägenden Detektivgeschichten auf unterhaltsame Weise konsumierbar – und viele seiner Storys kreisen auf faszinierende Weise um Begriffe wie Irrsinn, Wahn und Unglück – denkt man etwa an berühmte Geschichten wie «Morella», «Ligeia» oder «The Fall of the House of Usher».
So darf die Begegnung des jungen Baudelaire mit den Schriften Poes als nicht hoch genug einzuschätzender Glücksfall für die weitere Entwicklung der Dichtung bis heute insgesamt betrachtet werden. Denn ohne den Einsatz des jungen, in sich zerrissenen französischen Dichters hätte Poes Werk womöglich eine andere Richtung genommen.
«Eindruck und Ausdruck müssen im Werk identisch erscheinen» hatte Baudelaire als poetische Maxime für sich ausgegeben. Poes zeitlose Dichtungen für sich erfüllen den Baudelaireschen Anspruch bis heute glänzend.