Es gab da diesen jungen englischen Kampfpiloten. «Der sagte, im Einsatz hätte er den deutschen Piloten immer zugewinkt. Man hatte schliesslich nichts gegeneinander.
Es gab da diesen jungen englischen Kampfpiloten. «Der sagte, im Einsatz hätte er den deutschen Piloten immer zugewinkt. Man hatte schliesslich nichts gegeneinander. Und das erste Mal, sagte er, als einer auf ihn geschossen habe, konnte er das gar nicht glauben. Er fand es so stillos…» Das ist das englische Bürgertum im Ersten Weltkrieg.
Und das ist der skurrile Humor des 43jährigen englischen Erfolgsautors Tom McCarthy. Er hat mit dem Entwicklungsroman «K» ein grossartiges Buch geschrieben, das nun auf Deutsch erschienen ist. Darin erzählt er vom jungen Serge Karrefax von 1898 bis in die 1920er-Jahre. Gleichzeitig vermittelt McCarthy einen verschrobenen zeitgeschichtlichen Blick auf jene Epoche der Avantgarde. Und er zeigt die Dekadenz eines Bürgertums, das mit starrem Blick voraus in den Abgrund schlittert. Denn jede Form der Selbstbehauptung wäre ja «stillos».
Absurdes, Paradoxes, Hirnrissiges: Der Roman entwickelt in vier Kapiteln eine phantastische Weltsicht. Im ersten Teil wächst Serge mit seiner Familie in Südengland auf. Sein Vater führt ein Erziehungsheim für taube Kinder, denen er paradoxerweise die Zeichensprache rigoros verbietet. Dafür glaubt er an die Zukunft der Technik. Beim Tod von Serges Schwester Sophie veranlasst der Vater, dass ihr Leichnam eine Morsetaste mit ins Grab bekommt – inklusive Übertragungsantenne. Denn falls Sophie ins Leben zurückfindet, könnte sie sich mit einem kurzen Hilferuf zurückmorsen. Man weiss ja nie. Trauriger Hintergrund der Morse-Episode: Sophie nahm sich das Leben mit Zyankali und wäre selbst dann nicht zurückgekommen, wenn sie es gekonnt hätte. Denn die Feinfühlige zerbrach am Elend der damaligen Welt.
Dann bricht der Erste Weltkrieg aus und Serge kommt als Funker auf einer fliegenden Kiste zum Einsatz. Im dritten Teil lümmelt der Held als Kokainsüchtiger durch die Londoner Unterwelt der Zwischenkriegszeit, im vierten ist er als Spion in Ägypten, wo er ein Kommunikationsnetz aufbauen muss.
Kommunikation und Missverstehen sind roter Faden in Tom McCarthys Buch: Etwa der morseverrückte Vater mit seinen tauben Schülern oder Serge als Funker in den Kriegswirren. Typisch auch, wenn der Romanheld die angeblich übersinnliche Kommunikation mit Verstorbenen während einer Séance auf einer Londoner Bühne als Scharlatanerie entlarvt.
Der Buchtitel «K» steht vordergründig für den Romanhelden Serge Karrefax, aber der Autor fasst im Buchstaben sein ganzes Werk zusammen – von Kommunikation über Kokain bis Katakombe in den Pyramiden. Das Original auf Englisch heisst «C» und deckt dieselben Wörter ab wie der Buchstabe K.
Tom McCarthy ist ein Liebling der englischen Kritik; «K» hat überschwengliches Lob gefunden. So schreibt der «Daily Telegraph» «vom allerbesten Buch, das 2010 herausgekommen ist». Er vergleicht ihn mit literarischen Grössen wie Kafka, Beckett und Pynchon wegen der Vielschichtigkeit der Lektüre. Tatsächlich ist «K» für den Leser ein aufwendiges Buch. Immer wieder ist zu spüren, wie der Autor mit seinem Publikum spielt: So erleidet der Protagonist nach einem Liebesspiel in einer Pyramide eine Blutvergiftung – eine Anspielung auf den angeblich mysteriösen Tod des Orientalisten Lord Carnarvon, der ob einer Blutvergiftung das Zeitliche segnete. Oder die Selbstmörderin Sophie ist auf der Suche nach einem gefährlichen «Balkankäfer», ein Hinweis auf den drohenden Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit allem Elend. Für McCarthy sind Anspielungen auf den Tod allerdings mehr Amüsement als Grauen. Er ist Mitbegründer der absurden «Necronautical Society», für die «Todesprojekte so wichtig sind wie Sex für die Surrealisten». Die Todesbegeisterten deklarierten ihr Manifest in einer Anzeige auf der ersten Seite der «Times» mit einem der typischen Sprüche von McCarthy: «Wir wollen den Tod kolonialisieren.»
Rolf Hürzeler